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Kultur: Das Dunkel ist Licht genug

Kulturschock Island oder Die Reize von Rejkjavik. Eine Reise an den Rand von Europa, dorthin, wo die Optimisten wohnen

Unglaublich, aber wahr: Bei der ersten Entdeckung Amerikas, fast 500 Jahre vor Kolumbus, spielte ein Mann namens Tyrker eine verhängnisvolle Rolle: Kein Türke, sondern ein Deutscher, den Erik der Rote als Stiefsohn aufgezogen hatte. Der Saga zufolge wurde Vinland nach ihm benannt, weil der aus dem Rheinland stammende Tyrker in Nordamerika Weintrauben entdeckte, die den Wikingern kein Glück brachten: Sie beluden ihre Schiffe damit und kelterten Wein, der Streit untereinander und Krieg mit den indianischen Ureinwohnern auslöste, die sie verächtlich als „Zwerge“ bezeichneten.

Die folgende Geschichte klingt noch unwahrscheinlicher: Im Juni 1627 überfielen algerische Piraten Island, plünderten und brandschatzten mehrere Ansiedlungen und verschleppten 370 Einwohner der an der Südküste gelegenen Westmänner-Insel, hauptsächlich Frauen und Kinder, um sie auf dem Sklavenmarkt von Algier meistbietend zu verkaufen. Eine der Entführten hieß Gudrid Simonardottir und wurde nach neun Jahren als Sklavin in Nordafrika vom dänischen König freigekauft; nach einer abenteuerlichen Reise quer durch Europa heiratete sie in Kopenhagen den sechzehn Jahre jüngeren Hallgrim Petursson, Islands bedeutendsten Psalmendichter, und kehrte erst 1637 in ihre Heimat zurück.

Die Begegnung protestantischer Bauern und Fischern aus Island, wo es damals weder Steinhäuser noch Städte gab, mit maghrebinischen Moslems war ein Kulturschock ersten Ranges, vergleichbar dem, was die ersten Ansiedler empfunden haben mögen, als sie um 870, aus Norwegen kommend, mit Haustieren und landwirtschaftlichem Gerät in Island eintrafen. Schon früher hatten sich dort irische Mönche niedergelassen, die von den damals noch heidnischen Wikingern getötet oder vertrieben wurden. Aber obwohl das Klima wärmer als heute und die Südküste mit Birken bewachsen war, die als Bau- und Brennmaterial dienten, war in Island alles anders als in Kontinentaleuropa, und das ist heute noch so: Angefangen vom vulkanischen Boden, der unter den Füßen brodelt oder bebt, rotglühende Lava, kochendes Wasser und heißen Dampf ausspeit, bis zu dem vom Golfstrom beeinflussten Wetter, das selten frostig, aber regnerisch und windig ist. Das Schönste an Island ist das Spiel der Farben auf den mit Vulkanasche und Schotter übersäten Berghängen und dem in der Kälte dampfenden Meer, das der Hauptstadt den Namen gegeben hat: Rejkavik heißt auf Deutsch rauchende Bucht. Dazu die bis in den Spätherbst lila und gelb blühende Heide, die Wasser und Land überwölbenden Regenbögen, sobald ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervorbricht, und das silbrig gleißende Nordlicht, das wie eine Fata Morgana am Nachthimmel steht.

Die Geschichte der als Ultima Thule bezeichneten Insel am Rand der bewohnten Welt war eine Kette von Kulturschocks: Von der Christianisierung im Jahre 1000, die mit der Entdeckung Vinlands zusammenfiel, über die mit blutigen Kämpfen verknüpfte Einführung der Reformation bis zur 1944 einseitig erklärten Unabhängigkeit, vom dänischen König erst nach Kriegsende anerkannt. Der vorläufig letzte Kulturschock war die Stationierung amerikanischer Truppen in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, die Island zwar einen Wirtschaftsboom bescherte, aber die Gefahr kultureller Überfremdung heraufbeschwor: Damals kam auf zwei Isländer jeweils ein US-Soldat, und es gehört zur Ironie der Geschichte, dass es nicht zu antiamerikanischen Ausschreitungen kam, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung den Nato-Beitritt ablehnte und pazifistisch bis prosowjetisch eingestellt war: Der kommunistische Romancier und Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness ist das berühmteste Beispiel hierfür.

„Wir Isländer empfinden eine Art Hassliebe zu den USA“, sagt Hjalmar Sveinsson, Kulturredakteur beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der den Fall der Mauer in Berlin erlebt hat und fließend deutsch spricht: „Ein typisches Double-bind wie bei einem zerstrittenen Ehepaar, das sich nicht voneinander trennen, aber auch nicht harmonisch zusammenleben kann. Wir bewundern den American Way of Life und übernehmen jede technische Neuerung von den USA. Das Internet hat sich in Island schneller durchgesetzt als auf dem Kontinent. Doch kulturell bleiben wir Europa eng verbunden, besonders Skandinavien, aber auch England und Deutschland, das weit genug weg war von Island, um idealisiert und romantisiert zu werden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das. Dabei liegt uns Nordamerika geographisch und politisch näher als Westeuropa.“ Hjalmar Sveinsson nippt an einem Styroporbecher mit dampfendem Nescafé.

Island, so holt er weiter aus, sei nach Athen die dienstälteste Demokratie der Welt, besiedelt von Menschen, die, ähnlich wie die Pilgerväter an Bord der Mayflower, Europa verlassen hätten aus Protest gegen den norwegischen Feudalstaat mit seinen Steuerlasten und seiner sozialen Ungleichheit. „Islands Parlament, das Althing, war Legislative, Judikatur und Exekutive zugleich: Ein Versammlungsort unter freiem Himmel, wo die freien Bürger jedes Jahr im Juni zusammenkamen, um Streitfälle zu schlichten und Gemeinschaftsaufgaben einvernehmlich zu lösen.“ Dieses System habe selbst dann noch funktioniert, so Hjalmar Sveinsson, als Island die staatliche Selbstständigkeit verlor und von norwegischer unter dänische Herrschaft geriet. Die Kehrseite der direkten Demokratie aber sei ein tiefsitzender Provinzialismus, gepaart mit Ausländer- und Intellektuellenfeindlichkeit, die bis heute spürbar sei: „Nur ein Bauer oder ein Fischer gilt hierzulande als ehrlicher Mensch!“

Ich will wissen, warum Alkohol in Island so viel teurer ist als im übrigen Europa: Macht der lange Winter die Menschen depressiv und verleitet so zum Alkoholmissbrauch? Im November wird es schon am frühen Nachmittag dunkel, im Dezember und Januar herrscht nahezu völlige Finsternis. Die Deutschen wären unter solchen Umständen noch pessimistischer, als sie es ohnehin schon sind.

„Im Gegenteil, wir Isländer sind optimistischer als die Deutschen und haben nicht deren übertriebenes Sicherheitsbedürfnis, weil wir gelernt haben, im Einklang mit der Natur zu leben und nicht gleich in Panik geraten, wenn die Erde bebt oder ein Vulkan ausbricht. Das Alkoholverbot hat ökonomische und kulturelle Ursachen: Wein und Bier mussten aus dem Ausland importiert werden, und Schnaps wurde geschmuggelt oder schwarz gebrannt, bis die von Frauenvereinen und Kirchen propagierte Prohibition von Skandinavien auf Island übergriff. Das Alkoholverbot blieb hier länger in Kraft als anderswo.“ Erst 1989, im Jahr des Mauerfalls, wurde der Ausschank von Bier legalisiert.

Die Folgen sind allabendlich in der Altstadt Rejkjavik zu besichtigen, wo Touristen und Passanten sich an die Theken der Bars drängen, um für exorbitante Preise Whisky, Wein oder Bier aufzutanken. Bei meinem letzten Besuch wimmelte es trotz des Dauerregens in der Fußgängerzone von volltrunkenen Schotten, die von Edinburgh oder Glasgow nach Rejkjavik gekommen waren, um ihre Nationalmannschaft zum Sieg über Island anzufeuern. Die schottischen Hooligans sind besser als ihr Ruf; abgesehen von dem in letzter Sekunde vereitelten Versuch eines volltrunkenen Fans, auf einem Geysir hockend mit hochgeschlagenem Schottenrock seine Notdurft zu verrichten, was den jungen Mann nicht nur seine Männlichkeit, sondern das Leben hätte kosten können: Das aus dem Boden schießende Wasser hat eine Temperatur von 150 Grad.

„Eigentlich ist die isländische Gesellschaft noch immer ein Matriarchat“, sagt die Autorin Steinunn Johannesdottir, die einen Roman über die von Piraten entführte Gudrid Simonardottir geschrieben und allen Stationen ihres abenteuerlichen Lebens - von Algier über Marseille und Glücksburg bis Kopenhagen – selbst nachgereist ist. „In heidnischer Zeit waren die Frauen gleichberechtigt, wie die Edda oder das Nibelungenlied zeigen. Die christlich-monogame Ehe hat sich in Island nur langsam durchgesetzt, und in den Sagas gibt es viele starke Frauen, die wie Gudrid nicht nach der Pfeife der Männer tanzen. Vielleicht ist das der Grund, warum Island keine Armee unterhält und in seiner über tausendjährigen Geschichte niemals Krieg geführt hat.“

„Und was ist mit dem Kabeljaukrieg?“

„Den haben wir, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, gewonnen!“ Steinunn Johannesdottir zeigt durchs Fenster des Fischrestaurants nach draußen, wo stahlgraue Küstenwachboote mit kreisenden Radarschirmen und in Persenning verschnürten Geschützen an der Kaimauer dümpeln – neben einer Flotte rostiger Walfänger, die seit Jahren auf die Aufhebung des Fangverbots warten.

Alle streben zum Licht. Aber jetzt, zum Jahresende, wirkt Island, die Insel der Optimisten, besonders schön. Und ist trotz der Dunkelheit fast rund um die Uhr nicht so kalt wie Berlin.

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