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Kultur: Das Ensemble ist alles

Die Berliner Staatsoper imponiert mit Schostakowitschs Groteske „Die Nase“ – auf der bilderwütigen Bühne des Künstlers Jörg Immendorff

Wenn es um seine Kunst geht, versteht Jörg Immendorff keinen Spaß. Hatten doch vor knapp einem halben Jahr „FAZ“ und „Spiegel“ gewagt, sich über die von ihm entworfene Fahne der Ruhr-Triennale zu mokieren und das Werklein als „trivial“ und „ärgerlich“ zu verunglimpfen. Die Quittung dafür bekommen sie jetzt, überraschenderweise an Berlins Staatsoper. Im dritten Akt der Neuinszenierung von Dimitri Schostakowitschs zackiger Operngroteske „Die Nase“ hat das Publikum ausgiebig Zeit, diese schwarz auf rot an die Bühnenrückwand gemalten Texte zu lesen. Und damit auch wirklich jeder mitbekommt, was der Düsseldorfer Malerfürst von derartigem Geschreibsel hält, muss der Nasendarsteller vor diesem Menetekel ein weiteres Immendorff-Fähnchen mit stilisiertem Riechorgan schwenken.

Dass Immendorff die Bühne zum Pranger machen und eine Privatfehde ausfechten darf, die dem überwiegenden Teil des Berliner Opernpublikums herzlich egal sein dürfte, zeigt freilich, wer bei dieser zweiten Saisonpremiere der Staatsoper in Wahrheit das Regiment führt. Es ist nicht der Hausherr Peter Mussbach, der als Regisseur offenbar hauptsächlich damit beschäftigt ist, die ausufernde assoziative Bilderflut des Ausstatters Immendorff irgendwie mit der vorgesehenen Handlung überein zu bringen.

Dabei ist die auch so schon rasant, konfus und absurd genug: In knapp 90 Minuten rollt Schostakowitsch die Nikolai Gogol entlehnte Geschichte von der Nase ab, die ihrem Besitzer abhanden kommt, zum Staatsbeamten und zur Mediensensation avanciert und schließlich, als sei nichts gewesen, wieder an ihren Ursprungsplatz zurückkehrt. Ein Musikstück, geschrieben vor 75 Jahren, angesiedelt zwischen der russischen Tradition des absurden Märchentheaters und dem fantastischen „Caligari“-Expressionismus der zwanziger Jahre. Eine lärmig motorische Großstadtoper, die mit sozialistischem Fortschrittsoptimismus und ungebändigter Lust am Theater alle romantischen Traditionen in den Reißwolf schmeißt und ohne Rücksicht auf die Erschöpfbarkeit humaner Ressourcen scharenweise plärrendes Menschenmaterial in Klein- und Kleinstrollen über die Bühne jagt.

Eigentlich, so möchte man folgern, ist das genau der richtige Stoff für einen Künstler wie Immendorff. Schon an einigen Bühnenwerken („Trovatore“, „Rake’s Progress“) hat er seinen Integrationswillen in den Domestizierungsprozess einer Opernproduktion bewiesen, besitzt aber zugleich die notwendigen Freiheitsgrade an Fantasie, um für die übergeschnappte Handlung adäquat übergeschnappte Bilder zu finden.

Vielversprechend beginnt’s denn auch an der Staatsoper, mit lauter goldbehelmten Staatskapellenmusikern im Glitzerlook und allerlei skurrilem Personal. Das muss sich zwischen dem auf Bühnenhöhe postierten Orchester hindurchschlängeln, auf Podesten hochgefahren und in einem feuerroten Riesenschlafsack vom Schnürboden heruntergelassen werden. Das verspricht temporeiches Musiktheater, und die charakterstarken Stimmen von Sten Byriel ( als nasenlosem Kollegienassessor Platon Kowaljow), Hanno Müller-Brachmann (als nasenfindendem Barbier Iwan Jakowlewitsch), Jeffrey Francis (als nasenfeindlicher Barbiersgattin Praskowja Ossipowna) und Alexander Vinogradov (als nasenbehandelnder HNO-Arzt) signalisieren, dass die Geschichte auch prächtig und mit Spaß gesungen werden wird.

Doch je turbulenter die Handlung wird, desto mehr verheddert sich Immendorff und Mussbach der Erzählfaden: Ist mit der inkriminierten Nase nun tatsächlich ein Riechorgan gemeint, wie es sich – kunstvoll von Immendorff skulptiert – schließlich in ganzer Bühnenhöhe emporreckt? Oder fehlt dem verzweifelten Kollegienassessor nicht vielmehr ein ganz anderes Organ, das eigentlich seinen Sitz hinter dem überdimensionierten Feigenblatt an Kowaljows Unterleib haben sollte? Entschieden wird die Sache von Fall zu Fall, gerade so, als ob sich Ausstatter und Regisseur nicht hätten einigen können. Wenn Immendorffs Bilder zusehends ins Pappnasig-Karnevaleske abdriften, diagnostiziert Opernpsychiater Mussbach Kastrationsangst, geweitet in archaische gesellschaftliche Grundtraumata: Die westlich-männliche Potenz wird für ihn offenbar durch eine unheilige Allianz aus Frauen und Islamisten bedroht. Flugs verwandelt sich etwa die rabiate Barbiersgattin in einen Al-Qaida-Kämpfer und liefert ihrem Gatten einen filmreifen Schaukampf. Doch der ganze munter bebilderte Assoziationsreigen mündet schnell in die Unverbindlichkeit: Die Nasenjagd schnurrt einfach ab.

Eine unmissverständliche Meinung zum Stück hat an diesem Abend allein Kent Nagano am Staatskapellenpult. Für ihn steht Schostakowitsch ganz nahe bei Schönberg und Strawinsky und kaum mehr in der russischen Märchenoperntradition eines Rimsky-Korsakow (dessen „Zar Saltan“ mit dem berühmten „Hummelflug“ der direkte Vorfahr russischer Opernabsurdität ist). Bei Nagano ist kein Platz für rubatoselige Volkstheatergemütlichkeit, unablässig treiben die motorischen Energien der Musik voran, zerfetzen die Streicher mit trocken präzisem Rasenmäher–Sound die letzten Versatzstücke traditioneller russischer Volksmelodik, die Schostakowitsch noch hin und wieder parodistisch aufscheinen lässt.

Wie in George Antheils parallel entstandenem epochalen Orchesterwerk „Ballet mechanique“ laufen alle Notenlinien auf den kollektiven Kollaps zu, landet die extreme Mechanisierung der Orchestermaschinerie bei den triebhaft archaischen Impulsen des Schlagwerks. „Die Nase“ ist ein gleißender Schostakowitsch, der bei aller Schärfe zugleich die federnde Eleganz echter Theatermusik besitzt. Dass die Staatskapelle und der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor diese Anforderungen bruchlos einlösen können, zeigt einmal mehr, dass die Staatsoper auch jenseits ihres angestammten Wagner- und Strauss-Repertoires eine künstlerische Perspektive besitzt.

Nur Jörg Immendorff wird sich vermutlich wieder ein paar neue Kritiken an die Wand heften können. Zu Hause, hoffentlich.

Nächste Vorstellungen am 19., 22., 26. und 30. November.

Jörg Königsdorf

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