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Kultur: Das Erbe meines Großvaters

„Raubkunst“ oder „Fluchtkunst“: Ein persönlicher Kommentar zur Restitution von Kirchners „Berliner Straßenszene“ aus dem Brücke-Museum / Von Christina Feilchenfeldt

In seiner 1998 erschienenen Publikation „Raubkunst – Kunstraub. Die Schweiz und der Handel mit gestohlenen Kulturgütern zur Zeit des Zweiten Weltkrieges“ unterscheidet Thomas Buomberger zwischen „Raubkunst“ und „Fluchtkunst“: Während es sich bei „Raubkunst“ um in Deutschland zurückgelassenen, von den Nazis enteigneten Besitz ausgewanderter Juden handelt, brachten jüdische Emigranten die sogenannte „Fluchtkunst“ selbst ins Ausland, um dort von den Verkäufen zu leben. In Übereinstimmung mit den Statuten der im selben Jahr abgehaltenen Washingtoner Konferenz ist „Raubkunst“ in jedem Fall zu restituieren, „Fluchtkunst“ hingegen nicht.

Die Einzigartigkeit des Hitler-Regimes kann in ihrer Ungeheuerlichkeit nicht oft genug betont werden. Die Grausamkeit und Brutalität, mit der über sechs Millionen Juden systematisch ausgelöscht wurden, macht die Diskussion über enteignete Kunstwerke umso schwieriger, als sie in keinerlei Relation zu dem Leid steht, das während der Nazi-Diktatur geschaffen wurde. Häufig genug waren es die assimilierten Juden – wie im Falle der Familie des Schuhfabrikanten Alfred Hess oder meiner Großeltern –, die sich erst nach der Einführung von Hitlers Rassegesetzen mit ihrer jüdischen Herkunft konfrontiert sahen. Der Verlust der deutschen Heimat war für viele unverwindbar, so auch für meine Großeltern, die im Schweizer Exil ihre Berliner Wurzeln nie vergaßen. Andere hatten weniger Glück und auch weniger Besitz, der ihnen einen Aufenthalt im sicheren Ausland hätte erkaufen können.

Der Voraussicht meines Großvaters ist es nicht nur zu verdanken, dass für ihn und seine Angehörigen die Emigration gegen Bezahlung von „Reichsfluchtsteuer“ und „Juden-Abgabe“ glückte, er war auch maßgeblich an der Ausreise weiterer verfolgter Juden beteiligt, indem er ihre Kunstwerke vor dem Zugriff der Nationalsozialisten bewahrte. Nachdem er 1933 als Mitinhaber der Kunsthandlung Paul Cassirer, Berlin, mit Filiale in Amsterdam, seinen Wohnsitz nach Holland verlegt hatte, gelang es ihm, die wertvollsten Bilder des Berliner Geschäftslagers sowie die Kunstgegenstände der von ihm betreuten Kunden ins Ausland zu versenden. Als Vorwand dienten ihm Ausstellungen in Österreich, Holland und der Schweiz, die er mit diesen Kunstwerken bestückte. Zu seinen Kunden gehörten jüdische Sammler wie Estella und Leonie Katzenellenbogen, Max Liebermann und Samuel Fischer in Berlin, aber auch Max Silberberg und Alexander Lewin in Breslau sowie der Schriftsteller Erich Maria Remarque.

Die so außer Landes geschafften Werke wurden zur Existenzgrundlage ihrer Besitzer in der Emigration und sicherten ihnen ihre materielle Zukunft. Ebenso wie Thekla Hess, die ihre Sammlung 1934 in die Schweiz schickte, lebten auch meine Großeltern und andere Emigranten von Verkäufen der auf diese Weise geretteten Kunstwerke. Im Sinne der Washingtoner Konferenz sind diese Werke somit als „Fluchtkunst“ einzustufen und nicht zu restituieren.

Dies müsste auch für Kirchners „Straßenszene“, ehemals Sammlung Hess, gelten, die, wie berichtet, jüngst an die Erbin Anita Halpin restituiert wurde. Die Firma des Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess hatte schon 1929 Insolvenz beantragt, und nach dem Tod ihres Mannes 1931 sah sich die Witwe Thekla Hess genötigt, Werke ihrer Sammlung sukzessive zu veräußern, um von dem Erlös zu leben. So kam es auch zum Verkauf des Kirchner-Gemäldes an den Sammler Carl Hagemann, der in engem Kontakt mit dem Künstler stand und sehr genau wusste, dass er ein Meisterwerk erwarb. Er zahlte dafür auch einen angemessenen Preis, und zwar einen höheren, als Thekla Hess ihn in der Schweiz hätte erzielen können: War das Gemälde 1934 im Katalog einer Zürcher Verkaufsausstellung mit 2500 RM angesetzt, so erwarb es Hagemann entweder 1936 oder ein Jahr später für 3000 RM. Auch gibt es keinen Grund, die Ausbezahlung des Geldes an Thekla Hess zu bezweifeln. Aus den Unterlagen, die mir von Peter Romilly, einem Vertrauten der Familie, im Rahmen der Vorbereitungen zu einem Artikel über die Sammlung zugänglich gemacht wurden, geht an keiner Stelle hervor, dass dieser Kaufpreis nicht gezahlt wurde. In anderen Fällen nennt Hans Hess, der Vater der Antragstellerin, in der Korrespondenz mit seinem Anwalt sehr wohl die Namen von Käufern und Händlern, die Werke aus der Sammlung seiner Eltern veruntreut hatten. Eine offene Rechnung im Falle des Kirchner-Gemäldes hätte Hess gegenüber seinem Anwalt während des Wiedergutmachungsverfahrens Ende der fünfziger Jahre sicherlich erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt war der Standort des Bildes den Erben bereits bekannt.

Im Übrigen hat auch Anita Halpin im Vorfeld der Publikation über die Sammlung ihres Großvaters keinerlei materielle Interessen erkennen lassen oder den Wunsch geäußert, das Bild zurückzuerhalten. Das lässt die Angelegenheit in neuem Licht erscheinen. Bekanntlich wurde Frau Halpin eine Vergleichssumme angeboten, die es ermöglichen sollte, das Bild an seinem Standort im Berliner Brücke-Museum zu belassen. Dass Frau Halpin dazu nicht bereit war, drängt die Vermutung auf, dass die Anwälte, die in Restitutionsfragen meist ein Erfolgshonorar erhalten, die entscheidende Rolle spielten. Sollte hier eine Praxis der „moralischen“ Wiedergutmachung etabliert werden, steht den deutschen Museen eine harte Zeit bevor. Allein im Berliner Brücke-Museum sind zwei weitere Gemälde mit einem Restitutionsantrag belegt. Dennoch muss in jedem Fall individuell geprüft und recherchiert werden, ob es sich um „Raub-“ oder „Fluchtkunst“ handelt. Im Falle des Kirchner-Bildes ist die Antwort wohl eindeutig.

Die Frage nach einer „moralischen“ Wiedergutmachung bleibt insgesamt höchst problematisch. Das Leben von Millionen europäischer Juden wäre ohne das blutige Regime der Nationalsozialisten vollkommen anders verlaufen, sie hätten gelebt, statt in Konzentrationslagern gefoltert und ermordet zu werden – all dies ist eine Tatsache, die an dieser Stelle nicht zur Diskussion stehen kann. Umso zynischer erscheint es unter diesem Gesichtspunkt, dass spezialisierte Anwaltskanzleien im In- und Ausland ihre Dienste der Enkelgeneration der Geschädigten gegen Erfolgshonorar andienen. Auch meinem Vater wurde von einem Berliner Anwalt das Angebot gemacht, alle vom Amsterdamer Geschäftsführer der Cassirer-Filiale veräußerten Werke zwischen 1939 und 1945 gegen 50 Prozent des Erlöses zu restituieren. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass mein Vater dies vehement ablehnte.

Bereits im Jahre 1948 thematisierte mein Großvater in einem Brief an den Central Collecting Point in München, in dem er nach Kunstgegenständen aus seinem Besitz forschte, die während des Krieges bei der Berliner Spedition Haberling eingelagert und nach Kriegsende nicht mehr auffindbar waren, die Schwierigkeiten bei der Rückgabe von „abhandengekommenen Sachen“. Heute, fast sechzig Jahre später muss mit dieser Thematik umso sorgfältiger und seriöser umgegangen werden, nicht zuletzt aus Achtung vor den direkt Betroffenen, für die ihre Kunstwerke die Rettung ins Leben bedeuteten.

Die Autorin ist Enkelin des Kunsthändlers Walter Feilchenfeldt und lebt als Kunsthistorikerin in Berlin.

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