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Kultur: Das Gesetz der Masse

Tanz für Elementarteilchen: Gilles Jobins „Under Construction“ bei den Berliner Festwochen

Von Sandra Luzina

Bewegungen wie aus einem Paralleluniversum: In Gilles Jobins Choreografie „Under Construction“, die jetzt im Rahmen der Berliner Festwochen in der Schaubühne uraufgeführt wurde, sehen wir nicht Akteure eines menschlichen Dramas, sondern tanzende Elementarteilchen. Der Schweizer Choreograf entführt in die Welt der Materie mit ihren Gesetzmäßigkeiten. Er erprobt den physikalischen Blick auf das Humane.

Gilles Jobin hat überhaupt eine große Affinität zu den Naturwissenschaften. Mit seinem letzten Stück „The Moebius Strip“ betrat er mathematisches Feld. Für „Under Construction“ hat er Theorien über den Ursprung des Universums und der Zeit studiert. Und sich mit Modellen der Organisation so genannter „Super-Organismen“ beschäftigt.

Sieben Tänzer schwärmen aus, ziehen ihre exzentrischen Bahnen. In ihrer rot-orange-gelb-lila Unterwäsche erinnern sie an die United Colours of Benetton. Die nüchternen und simplen Bewegungen lassen zunächst an 60erJahre-Performances denken. Und doch assoziiert der Zuschauer einen kosmologischen Horizont.

Gilles Jobin zeigt Streuung und Verdichtung im leeren Raum, bis sich erste Verbindungen ergeben. Eine bizarre Chemie der Körper wird durchgespielt. Doch auch wenn die Leiber verschmelzen, ist das kein Grund, sentimental zu werden. Jobin zeigt, wie die Bewegung den Gesetzen von Energie und Masse unterworfen ist. Obwohl sie zunächst nur als Quarks auftreten, gelingt den Akteuren eine dichte Performance.

Der Komponist Franz Treichler hat dafür einen pulsierenden Klangraum geschaffen, der das Geschehen fast wie in extraterrestrische Sphären entrückt. Und Gilles Jobin zeigt abstrakte Bewegungen; er zerschneidet die Körper regelrecht. Er lenkt den Blick auf rotierende Beinscheren, in die Luft ragende Hinterteile. Dann verschwinden die Tänzer erst halb, dann ganz unter dem schwarzen Tanzteppich, bilden kleine Hügel. Am Ende ist der Boden mit Wasser bedeckt, eine Szene, die von fern an den Ursprung des Lebens erinnert. Immer wieder sieht man extreme Manipulationen: Frauenkörper, die von den Männern heftig verbogen werden. Doch Jobin lässt diese Szene in der Schwebe: keine bewussten Grausamkeiten werden vorgeführt, zumal die Frauen die Übergriffe teilnahmslos über sich ergehen lassen. Unterschwellig vibrieren soziale Themen wie Führung und Gefolgschaft mit.

Eine Frau gibt die Richtung an, die anderen folgen ihr auf allen vieren. Gebannt folgen sie dem Solo ihrer Königin, die ihren Unterleib grotesk verdreht. Wir sind nun mitten in der Evolutionstheorie: Wie die Tänzer sich organisieren zu Organismen und Kollektiven, ist lustig und manchmal auch befremdlich anzusehen. „Under Construction“ verzichtet auf religiös-moralische Sinnkonstruktionen. Der Einzelne ist nicht als Teil einer unendlichen Bewegung.

Noch einmal am Sonntag, 8.9., 20 Uhr in der Schaubühne

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