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Kultur: Das globalisierte Kind Rimini-Protokoll gastiert mit den hinreißenden „Airport Kids“ im HAU

Der achtjährige Julien Ho sieht gute Chancen für seine Vision: Er will eine chinesische Enklave auf dem Mars errichten. Dagegen wirkt die Revolution, für die sein 14-jähriger Kollege Clyde Philippoz plädiert, geradezu bodenständig: Von seiner mittellosen Mutter nach der Geburt in Indien zur Adoption freigegeben, wächst der Kinderdarsteller bei Pflegeeltern in der Schweiz auf und hält einen Erziehungsberechtigten-Tausch alle fünf Jahre für weltweit erstrebenswert.

Der achtjährige Julien Ho sieht gute Chancen für seine Vision: Er will eine chinesische Enklave auf dem Mars errichten. Dagegen wirkt die Revolution, für die sein 14-jähriger Kollege Clyde Philippoz plädiert, geradezu bodenständig: Von seiner mittellosen Mutter nach der Geburt in Indien zur Adoption freigegeben, wächst der Kinderdarsteller bei Pflegeeltern in der Schweiz auf und hält einen Erziehungsberechtigten-Tausch alle fünf Jahre für weltweit erstrebenswert.

Stefan Kaegis und Lola Arias’ Stück „Airport Kids“, das im Juni im Théâtre Vidy-Lausanne herauskam und jetzt im koproduzierenden HAU 2 gezeigt wird, versammelt acht Kinder zwischen sieben und 14 Jahren auf der Bühne, die als reale Globalisierungspioniere schon heute das Leben von morgen führen: Ständig ziehen sie mit ihren Eltern, die für internationale Konzerne arbeiten oder aber Bürgerkriegsflüchtlinge sind, rund um den Globus. Soziologen haben für sie den Begriff „Third Culture Kids“ erfunden. Patrick Bruttin, dessen irische Mutter die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Philip Morris als Vizepräsidentin vertritt, erklärt, was das bedeutet. Ein Drittel von uns, verliest der 12-Jährige aus einer akademischen Publikation, arbeitet später für Regierungen. Oder: Wir sind zwar heimatlos, aber überdurchschnittlich nationalistisch. Und: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unter Depressionen leiden und später Suizid begehen, ist vergleichsweise hoch. Dabei reißt Patrick jede verlesene Seite aus dem Buch, knüllt sie zusammen und serviert sie der 10-jährigen Kristina Kovalevskaya, die von Krasnodar über Moskau nach Lausanne kam und an einer Tennisprofi-Karriere arbeitet, auf den Schläger. Die Verve und Zielsicherheit, mit der Kristina die statistischen Geschosse ins Publikum schmettert, lassen durchaus auf Wimbledon hoffen.

Und zeigen zugleich: Stefan Kaegi vom Regietrio Rimini Protokoll und die argentinische Regisseurin Lola Arias, die nach „Soko São Paulo“ nun ihre zweite gemeinsame Arbeit in Berlin präsentieren, sind der Soziologie voraus. Indem sie die geschlossene Statistik mit offenen Gesichtern konfrontieren, hebeln sie das altgediente Kapital-Defizit-Paradigma aus. Die Lebenswirklichkeit der Kinder – von Bühnenbildner Dominic Huber versinnbildlicht in einem bestens bespielbaren Flughafen-Cargo-Terminal, in dem jedes Kind eine Transportkiste mit Videokamera für Außenprojektionen bewohnt – ist hier weder gut noch schlecht, sondern sie ist einfach. Mit offenem Visier (keinesfalls zu verwechseln mit jener im freien Theater zurzeit verbreiteten Naivitätskoketterie gereifter Mittdreißiger) schaffen Kaegi und Arias Anknüpfungs- und Konfrontationspunkte, die sich zu einem ebenso komplexen wie charmanten Theaterabend aufschichten: Wenn die Kinder erzählen, was ihre um die Welt jettenden Eltern genau tun, eröffnet sich ein im produktivsten Sinne ver-rückter Blick auf moderne Arbeitswelten. Die quirlige siebenjährige Juliette Scialpi, deren italienischer Vater von Nestlé für die Prüfung von Kinderspielzeug in Cornflakes-Packungen bezahlt wird, führt den Crashtest selbst vor: Sie greift zu einem gelben Plastikteil, wirft es an die Wand, beißt dreimal darauf und braucht keine zehn Sekunden für die Diagnose: Geht nicht kaputt, lässt sich nicht verschlucken; ergo: perfekt.

Was den Blick auf zeitgenössische Erwerbstätigkeiten im Gegenwartstheater betrifft, hat die Erstklässlerin damit schon mal den Scharfsichtigkeitspreis gewonnen. Die Frage, ob dieser globale Stoß- und Beißtest ein Leben im permanenten Aufbruch rechtfertigt, bleibt dabei intelligent im Raum stehen. Kaegi und Arias schaffen dabei auf inhaltlicher wie ästhetischer Ebene kluge Irritationen. Etwa, wenn die 11-jährige Sarah Serafim den angolanischen Bürgerkrieg, vor dem ihr Vater flüchtete, mit ihren Lieblingshaustieren – drei Schnecken – auf einem Globus nachstellt.

Alle Akteure wirken erstaunlich professionell – was heißt: maximal ungekünstelt. Dass hier nicht auf dem Niedlichkeitsbonus herumgeritten wird, macht die Kids umso hinreißender. Ein absoluter Theaterglücksfall!

HAU 2, wieder heute u. morgen, 20 Uhr

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