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Kultur: Das Glück liegt auf der Straße

Wiederentdeckt: Louis Malles wegweisender Dokumentarfilm „Place de la République“ im FORUM

Sie tun es offen oder heimlich, und sie beteiligen auch Unbeteiligte. Zehn Tage im Jahr 1972 umkreisen Louis Malle und Fernand Moszskowicz mit zwei Kameras die Place de la République im Herzen von Paris. Sie dringen vor und weichen zurück, sprechen Passanten an und animieren sie zum Erzählen. Fremde oder Ureinwohner, alte und neue Franzosen, junge und bejahrte Männer und Frauen, Bürgerinnen und Bürger, die an der Place oder in den Nebenstraßen wohnen, Hausfrauen und junge Mädchen beim Einkaufsbummel, Flaneure und Bettler und dann und wann ein weißer Elefant: diejenigen nämlich, die sich nicht nur fragen und filmen lassen, sondern selber Fragen haben.

Alltag und Lebensgeschichten überkreuzen sich, kommen zur Deckung oder entfernen sich voneinander in der Vergangenheit und durch den Zufall der Gegenwart. Eine vielleicht 60-jährige Frau lacht schallend in die Kamera, zeigt kokett ihr Bein und hebt die Rockschöße an, wenn sie davongeht. Aber erzählt hat sie, dass ihr Mann vor drei Monaten gestorben sei, an Kehlkopfkrebs, mit einer Kanüle im Hals. Eine weißhaarige ältere Frau singt unaufgefordert, während andere sich dem Gefilmtwerden verweigern, und ein 80-Jähriger, der als Straßenmusikant mit Geige für Trinkgeld musiziert, spielt auch noch falsch. Eine Prostituierte darf in diesem Ensemble ebenso wenig fehlen wie der Straßenbauarbeiter, der Zeitungskiosk und die Lotterielosverkäuferin, die nicht gefilmt werden will. Und ein Afrikaner, der vor vielen Jahren nach Paris gekommen ist, berichtet, dass die Diskriminierung anhält.

Malle hat sich mit ihm in ein Bistro gesetzt – den Pariser Ort der Integration schlechthin. Aber nichts davon stimmt wirklich, oder stimmt nur halb. Keinesfalls sei Paris ein Schmelztiegel, in dem alle Unterschiede in die fraternité überführt werden. Und weil nichts zugleich richtig und falsch sein kann, werden die Widersprüche demnächst explodieren wie der Schlauch der Straßenarbeiter, über den ein Auto gefahren ist. Knall und Geknatter wie von einem Maschinengewehr beenden ein zweites Gespräch zwischen Malle und der Perückenmacherin abrupt. Wiederbegegnungen finden auch mit anderen statt. Vertrauen ist gewachsen – man grüßt sich als alte Bekannte.

Paris Anfang der siebziger Jahre: Die Stadt hat den Mai 1968 verdrängt und die Verhältnisse nicht verändert. Doch das hört man nur aus den Zwischentönen heraus, es wird nicht ausdrücklich danach gefragt, was die Zwischentöne umso vernehmlicher macht. Etwa bei der Perückenmacherin, die ihren Stand vor den Läden aufgebaut hat. Auch sie lebt schon seit Jahren in Paris, aber sie ist immer noch die Jüdin aus Marokko. Als eine alte Frau – sie fährt mit dem Rad über die Boulevards – zu schwadronieren anfängt und politisch krudes Zeug redet, lässt Malle sie gewähren, während sich eine große Menschenmenge um die Szene versammelt – und alle sind sprachlos.

Immer wieder wird in diesem cinéma direct das Filmen selbst zum Thema. Die Kameras zeigen einander, sie zeigen den Tonmann mit seinem Mikrofon, das er offen oder in einer Tasche verborgen trägt, sie integrieren das Team. Die blonde Prostituierte lässt sich auf das Verfahren ein, und Malle überlässt ihr Kamera und Mikrofon. Sie führt sogar Interviews mit älteren Männern, die ihre Laufkundschaft sein könnten. Der demokratische Gestus dieses Films könnte nicht deutlicher werden als in dieser Sequenz.

„Nun aber ruhen sie mit Recht in den Archiven“, schrieb jemand über die Dokumentarfilme von Louis Malle. Vor zwanzig Jahren. Das war nach „Place de la République“ ebenso wie nach den Dokumentationen, die Malle in Indien gedreht hatte: „Calcutta“ und der nahezu sieben Stunden lange „L’Inde fantôme“. Indien und das Genre des Dokumentarfilms waren Stationen einer Fluchtbewegung gewesen. Der Regisseur der Spielfilme „Fahrstuhl zum Schafott“, „Zazie“, „Die Liebenden“ und „Viva Maria!“ war 1968 in eine Krise geraten war, in der sich die politisch-gesellschaftliche Unruhe auf seltsam sensible Weise mit Zweifeln an der eigenen Kreativität verband: „Ich hatte mich leer gelaufen wie eine Autobatterie.“ Da konnte der Dokumentarfilm als Therapie Ernüchterung und Selbstbesinnung bewirken.

Fremd war ihm das Genre nicht: Mit Kurzfilmen über die Ölsuche im Persischen Golf und über die Höhle von Vaucluse hatte er das Filmen überhaupt erst begonnen. Und als Co-Regisseur des Altmeisters Jacques-Yves Cousteau hatte er Teil an der Goldenen Palme von Cannes und dem Oscar für den Tiefseefilm „Le monde du silence“ (Die schweigende Welt). Neu aufladen konnte er seine Batterie auch später wieder, in den USA, wo er seine Filme „Pretty Baby“ und „Atlantic City“ mit den Dokumentationen „God’s Country“ und „… and the Pursuit of Happiness“ begleitete und „Alamo Bay“ erst nach intensiven Recherchen über das Schicksal von vietnamesischen Krabbenfischern machte, die am Golf von Mexiko gestrandet waren.

„Place de la République“ fügt sich nach den amerikanischen Filmen anders als vor zwanzig Jahren in das Gesamtwerk Louis Malles ein. Jeder seiner (Spiel-)Filme ist stets ein anderer Film, keiner von ihnen will einem anderen gleichen. Die Dokumentarfilme stellen sich in einer größeren Einheitlichkeit dar, weil sie – gelegentlich in der Art des gefilmten Tagebuchs – offener sind für das Zeugnis, das ihr Autor von sich selbst ablegt, indem er offen auf die Menschen zugeht.

Heute 16.30 Uhr (Delphi). Das Arsenal zeigt vom 20. 2. bis 17. 3. eine Malle-Retro.

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