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Kultur: Das große Welträtsel

Er ist nicht gekommen. Jean-Luc Godard, der Gottvater des europäischen Autorenfilms, der Philosoph und Provokateur, hat in letzter Sekunde eine Absage geschickt.

Er ist nicht gekommen. Jean-Luc Godard, der Gottvater des europäischen Autorenfilms, der Philosoph und Provokateur, hat in letzter Sekunde eine Absage geschickt. Handschriftlich, in der Montagsausgabe der „Libération“ kann man es lesen: „Ich würde“, schreibt der 79-Jährige, „mit dem Festival bis in den Tod gehen, aber keinen Schritt weiter.“ Also keine Audienz beim Guru Godard, beim größten Außenseiter, den das Weltkino noch hat, kein sonnenbebrillter Godard-Blick ins Blitzlichtgewitter, kein Knabbern an der berühmten Zigarre, keiner der von seinem leisen, rauen Bass intonierten Sätze, die man mit nach Hause nehmen könnte, wie zuletzt 2004, als er mit seinem Balkan- und Nahost-Triptychon „Notre Musique“ in Cannes war und das Verschwinden des Kinos in Zeiten der Globalisierung beschworen hatte. Nun ist er selbst verschwunden, die Schlange vor dem Pressekonferenzsaal löst sich ungläubig wieder auf. Godard lässt uns allein.

In der Entschuldigungsnote bittet er neben der Festivalleitung auch Produktion und Weltvertrieb um Verständnis. Er nennt als Grund „problèmes de typ grec“, Probleme griechischer Art. Seltsame Formulierung, typisch Godard. Von solchen Problemen ist in Frankreich derzeit die Rede, wenn es um Europas Finanzkrise geht. Die Tragödie des Kontinents: kein Kommentar.

„Film Socialisme“ heißt das Kinobilderrätsel, das Godard nun ohne sich selbst nach Cannes geschickt hat. Eine Kammersymphonie aus filmischen Miniaturen, eine Collage aus Momenten der Schönheit, Dialogfetzen, Filmzitaten, Tönen, Stimmen, drei vier fünf Sprachen. Statt Untertiteln nur vereinzelte englische Wörter. Ein Kreuzfahrtschiff bereist das Mittelmeer, Ägypten, Haifa, Odessa, Griechenland, Neapel, Barcelona. Das Boot, die Titanic, ist voll: Animation auf allen Decks, ein Kriegsverbrecher, ein Philosoph, eine Polizistin zählen zu den Passagieren, Patti Smith schultert ihre Gitarre, das Meer ist von erhabener Schönheit. In einer Autowerkstatt im Midi leben zwei Kinder, sie kandidieren für die Präsidentenwahl, der blonde Junge dirigiert mit einem Eisenrohr ein imaginäres Orchester, das Mädchen liest an der Tankstelle einen Groschenroman, neben ihm beäugt ein Lama die deutschen Touristen, die unbedingt zur Côte d’Azur wollen. Oder ist alles ganz anders? Kein Kommentar, steht zuletzt auf der Leinwand.

Das Kino, die Politik, Europa: ein Enigma. Es hat jede Bedeutung verloren, es gibt nur noch Bruchstücke, es bleibt nur das Sammeln, das Staunen, die Bildstörung. Godard, der große Abwesende, sorgt dafür, dass die Show von Cannes stillsteht, einen Augenblick lang.

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