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Kultur: Das Kabinett des Dr. B.

Geisterstunde: Johanna Schalls expressionistische „Dreigroschenoper“ triumphiert am Berliner Gorki-Theater

Es ist das alte Lied. Für die kleine Polly, der ihr Vater die „Moritat von Mackie Messer“ zu Abschreckung vorsingt, taugt die Geschichte vom Haifisch mit den Zähnen bestenfalls noch als Wiegenlied. Brecht? Ein Ammenmärchen. Noch bevor die minderjährige Witwe geschändet ist, entschlummert das Kind (Nelly Thalbach) in den Armen von Vater Peachum (Jörg Schüttauf) – und der Zuschauer ist nach diesem Vorspiel vor der geschlossenen Brecht-Gardine sekundenlang allein gelassen: mit allen bösen Assoziationen, die dieses innige Vater-Tochter-Bild weckt.

Dass man mit der „Dreigroschenoper“ keine Maus mehr hinter dem Ofen hervor- und kein Kind mehr ins Theater locken könne – dieses Urteil gilt es zu widerlegen. Erst recht, wenn es sich, in der Regie der Brecht-Enkelin Johanna Schall, sozusagen um die posthum autorisierte Originalversion handelt – pikanterweise allerdings nicht am Originalort, dem Theater am Schiffbauerdamm, heute Berliner Ensemble, sondern einige Hundert Meter entfernt im Maxim-Gorki-Theater. Es ist jedoch – nach der St.-Pauli-Fassung jüngst in Hamburg, einer Video-Version in Hannover und Dominique Horwitz’ aasiger Platteneinspielung – die Fassung, die am ehesten an den Geist der Uraufführung 1928 anknüpft. Brechts Ko-Autorin Elisabeth Hauptmann, schnöderweise im Programmheft mit keinem Wort erwähnt, hätte ihr Vergnügen dran. Brecht-Tochter Barbara Schall, die in der Premiere in der ersten Reihe thront, scheint es zufrieden.

Historisch kommt diese Version in der Tat daher. Altmodisch verstaubt jedoch kein bisschen. Orientiert sich Johanna Schall doch an einer Ästhetik, die man eher aus dem Kino kennt. Der Expressionismus, die Zeit von Dr. Caligari, Dr. Mabuse und Konsorten, ist als erster Höhepunkt des deutschen Films noch immer präsent. Dass es auf dem Theater zur gleichen Zeit nicht viel anders aussah – davon künden nur noch vergilbte Fotografien.

Und so rekonstruiert man am Gorki mit Lust eine untergegangene Welt. Eine Welt, in der so ziemlich alles aus dem Lot ist: mit Bühnenprospekten, die zum Gotterbarmen verzerrt sind, mit schiefen Türen, Fenstern, Giebeln, und selbst das Mobiliar kippt ständig aus der Balance (Bühnenbild: Horst Vogelgesang). In der Maske triumphieren kräftig Mascara, Kajal und weiße Schminke, alles ist in historischem Sepiabraun gehalten, und die Darsteller winden sich, gestikulieren nach Kräften. Gekrümmt schleichen sie über die Bühne, stets in bedrohlicher Schräglage, Arme recken sich, Gesichter verzerren sich. Der Kanonen-Song zwischen Mackie und Tiger-Brown (mit wunderbar schrägem Hüftschwung: Norman Schenk) wird zum absurden Kräftemessen zweier Bühnen-Stiere, halb Boxkampf, halb Tango. Und dahinter bauen sich, dämonisch verzerrt, Schatten wie Vampire auf. Erst als zur Schluss-Utopie das Ganze dann plötzlich in Farbe ist, ist der Zauber verflogen, wirkt alles so schäbig, wie es wirklich ist.

Dass der Abend in seiner Exaltiertheit dem Geist des Stummfilms verhaftet ist, wird zu Beginn noch unterstrichen durch eine kurze Filmsequenz des Videoclip-Regisseurs Philipp Stölzl, der Peachums vier Bettler-Typen in verwackelten Filmbildern aufmarschieren lässt. Auch die expressionistisch verzerrten Zwischentitel, gegen die Bühnenwand geworfen, betonen die historische Distanz. Der interessantere Konflikt jedoch findet in der Gegenwart statt. Auch dies ein Konflikt zwischen Bühne und Leinwand: Das Ensemble ist gemischt aus Theater- und Filmschauspielern. Gorki-Protagonisten wie Ursula Werner als Spelunkenjenny oder Jacqueline Macaulay als Mrs. Peachum treffen auf Filmgrößen wie den stämmigen Jörg Schüttauf, bekannt vor allem durch seine Hauptrolle in Hannes Stoehrs Filmerfolg „Berlin is in Germany“. Als Jonathan Peachum ist er eines der Kraftzentren des Abends. Und die 27-jährige Maria Simon, in „Good bye, Lenin!“ Daniel Brühls ältere Schwester, in „Lichter“ die engagierte Dolmetscherin an der Grenze und gerade für die Berlinale als „Shooting Star 2004“ nominiert, hat einen fulminanten Theaterauftritt.

Sie spielt die Polly ganz zur Rampe hin, sozusagen permanent in Großaufnahme. Keine Sekunde, in der sie auf der Bühne steht und nicht präsent ist. Dass sie mit Weills Liedern zu kämpfen hat – dieses Manko teilt sie mit Schauspielern wie Ursula Werner und Jörg Schüttauf, die die begleitende Dreigroschenband (Leitung: Ari Benjamin Meyers) kräftig ins Schwitzen bringen. Wie Maria Simon aber die Ballade von der Seeräuber-Jenny als schüchternes Bürgerkind zwitschert und im Lied von der Verheiratung mit Mackie Messer plötzlich zur hemmungslosen Hochform aufläuft, zeigt, dass diese Schauspielerin sich nicht schont. Die Stimme wird sie sich zumindest ruinieren. Das Publikum jedoch liebt sie dafür. Szenenapplaus.

Was für den Protagonisten leider nicht so gilt. Dass der Abend bei aller Überdrehtheit doch einige Durchhänger hat, liegt vor allem an Pierre Bessons eher blassem Mackie Messer. Was dem Erfolg jedoch keinen Abbruch tun wird: Mit dieser „Dreigroschenoper“ hat das Haus einen würdigen Nachfolger für Katharina Thalbachs vielgeliebten „Hauptmann von Köpenick“.

Wieder am 5., 14., 15. und 28. Februar

Christina Tilmann

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