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Kultur: Das Land der verlorenen Kinder

Bertrand Tavernier erzählt in „Holy Lola“ von der Odyssee einer Adoption in Kambodscha

Irgendwann treten die drei Männer in den Liegestreik. Mittags bei brütender Hitze legen sie sich auf den harten Boden vor den Container, in dem es den letzten Stempel, die letzte erlösende Unterschrift vor dem Heimflug geben soll – seit Tagen finden sie sich stundenlang erfolglos in dem Ministeriumshof ein, schmieren die Uniformierten an der Schranke mit Zigaretten, und jetzt, eine Schnapsidee, liegen sie nur noch da und starren in die Luft. Aber wie’s so kommt: Manchmal nehmen Leerlauf, irgendwann auch Verzweiflung so überhand, dass alles in Albernheit umschlägt. Und dann, noch verrückter, geht alles ganz schnell.

Der kurze Streik ist die einzige europäisch-selbstbewusste Sponti-Aktion, die dieser Film um ein Dutzend adoptionssüchtige Franzosen in Kambodscha sich gestattet – Ausbruch aus wochen-, ja monatelangen disziplinierten Demarchen in einem fremden, durch und durch korrupten Land. Sein wertvollster Rohstoff: Waisenkinder. Diese Säuglinge und Babys sind die lebenden Hauptgewinne für manchmal schon vor qualvoller Kinderlosigkeit fast erodierte Ehepaare, die die jahrelange Warterei bei den heimischen Adoptionsbehörden satt haben und ihr Heil nun für ein paar Dollar mehr in der Ferne wagen. Auch wenn sie nicht so viele Dollars wie so manche Amerikaner auf den Tisch legen können (oder wollen), die nach zwei Tagen mit einem süßen dunkelhäutigen Baby inklusive locker erledigtem Papierkram schon wieder außer Landes sind.

Seit elf Jahren sehnen sich der junge Landarzt Pierre (Jacques Gamblin) und seine Frau Géraldine (Isabelle Carré) nach einem Kind. Nun reisen sie, das Kinderzimmer in ihrer Idylle am Dorfrand ist eingerichtet, ins tropische Kambodscha – und eine zweimonatige Odyssee beginnt. „Holy Lola“ heißt das kleine Mädchen, das sie irgendwann, aus dem zigsten Waisenheim namens „Holy Baby“ nach Frankreich mitnehmen dürfen; doch vorher wird, im Alltag zwischen dem Guest-House-Hotel voller entnervter Schicksalsgenossen und nervenzerrenden Heimbesuchen, zwischen Bettelgängen bei der französischen Botschaft und seltsamen Soireen mit subalternen, bakschischheischenden Kambodschanern, ihre Geduld und – vor allem – die Belastungsfähigkeit ihrer Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Ob das Leben zwischen tausenderlei Gerüchten im Hotel immer unerträglicher wird; ob Pierre einen kalt-kriminellen Kinderhandel vereitelt, auf den Géraldine sich vor lauter Ermattung schon einlassen wollte; oder ob Geldprobleme das gesamte Vorhaben zum Scheitern zu bringen drohen: „Es ist kein Film zum Thema Adoption“, sagt Tavernier sehr zu Recht, „sondern über ein Paar, das ein Kind adoptieren möchte“ – in seinen stärksten Momenten mithin ein Film über die alle Hindernisse überwindende Kraft der Liebe.

Mit hinreißender Frische geben die Protagonisten Gamblin und Carré diese Stellvertreter des wohl menschlichsten aller Träume – Schauspielprofis, die sich mit Regisseur Bertrand Tavernier, einer Reihe von Kollegen und vielen Laien, die sich selbst in ihrer Berufswirklichkeit zeigen, so tollkühn in das Abenteuer der Wirklichkeitsdarstellung stürzen, dass der Unterschied zwischen Gespieltem und Gelebtem zeitweise ganz zu verschwinden scheint (wozu die virtuose Handkamera von Alain Choquart das Ihre tut). Diese Tour de Force ist es, die „Holy Lola“ auch für ein Publikum sehenswert macht, das sich für administrative und psychologische Details der Adoptionsproblematik sonst womöglich weniger zu erwärmen vermag. Und es ist vor allem die wohldosierte Spontaneität der Protagonisten, die über mancherlei überbeflissen anmutende Widerspiegelung der kambodschanischen Realität mit ihren anderweitigen Elendselementen (Müllkippen-Sucher, Landminen- und andere Kriegsfolgen) hinwegtröstet.

Am Ende gönnt gewiss jeder Zuschauer den beiden ihre Holy Lola, nicht zuletzt, weil er selbst in ihre Strapazen so aufregend hineingerissen war; und dass, wie im Presseheft beteuert wird, die meisten Kinder-„Schauspieler“ dieses Films tatsächlich behütet bei ihren eigenen Eltern aufwachsen und somit hier nicht echte Waisen um ihr Leben spielen müssen: ein Trost mehr, der freilich den Blick auf die realen Nöte nicht verstellt.

fsk am Oranienplatz (OmU), Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Kant. Ein Interview mit Regisseur Bertrand Tavernier ist gestern im Tagesspiegel erschienen.

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