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Kultur: „Das Leben ist keine Probe“

Zum Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker: Chefdirigent Simon Rattle über Musiker-Egos, Risikospiele und das Alte Europa

Sir Simon, Sie sind seit gut einem Jahr Chef der Berliner Philharmoniker. Was hat sich verändert?

Es ging alles viel schneller, als ich dachte. Die Musiker phrasieren nun wie mit einer Stimme und können in Sekundenschelle die Farbe oder die Dynamik ändern. Oft liegt das an ganz einfachen Dingen. Ein Beispiel: Musizieren hat ja nicht nur mit Gesang zu tun, sondern auch mit dem Sprachrhythmus, der natürlichen Betonung der musikalischen Silben. Anfangs habe ich unendlich oft gesagt: Die letzte Note ist nicht die lauteste, bloß weil sie die letzte ist. Egal wie laut man „Beethoven“ sagt, man sagt niemals Beethovén. Irgendwann haben sie aufgehört, die letzte Note am lautesten zu spielen, damit ich endlich zu schimpfen aufhöre. Dieses Lauterwerden mit jedem Ton ist übrigens ein KarajanErbe.

Und was macht das Pizzicato? Das war ja auch so ein Problem.

Manchmal kriegen wir sogar das inzwischen hin! (lacht) Jedenfalls ist es nicht mehr zu hastig. Wir machen immer noch Witze darüber. Karajan hatte diese Pizzicatophobie und übertrug seine Angst auf das Orchester – zwei Generationen lang! Vorher hatten die Berliner nie ein Pizzicato-Problem. Wahrscheinlich werde ich ihnen auch ein paar schreckliche Dinge hinterlassen, die ihnen meine Nachfolger wegoperieren müssen.

Und worin besteht das Erbe Ihres Vorgängers Claudio Abbado?

Im Piano. Ein Orchester, das man von Claudio Abbado übernimmt, weiß, wie man leise spielt. Aber im Grunde sind all das Detailfragen. Wichtiger ist: Die Musiker gehen nach diesem einen Jahr anders miteinander um. Sie sind viel kollegialer, es gibt mehr Sympathie, weniger Konkurrenz. Auf unserer USA-Tournee im November haben amerikanische Musiker zu uns gesagt: Oh, es gibt ja viel weniger Ego bei Euch! Das stimmt zwar nicht, denn es gibt unter den Berliner Philharmonikern durchaus einige Egos.

In einem guten Orchester sind sie wahrscheinlich unverzichtbar.

Mit Sicherheit. Aber die Beobachtung der Kollegen trifft zu, weil die Philharmoniker nicht gegeneinander kämpfen. Es ist wie beim Jazz: Sie kommunizieren, spielen sich an, es gibt Blickkontakt. Der erste Geiger weiß, wann in den Kontrabässen die Harmonien wechseln, und in diesem Moment lächelt er den Kontrabassisten an. Es geht eben nicht um Stolz, um dieses hochmütige: Wir können das und haben es nicht nötig, auch nur eine Miene zu verziehen. Nein, es geht um Freude, auch um Spaß – wie in der Rockmusik. Das ist das wahre Abenteuer.

Sie möchten Klassik für das 21. Jahrhundert interpretieren. Was unterscheidet ein gutes Konzert von einem vor zehn Jahren?

Der Gedanke, dass die Musik für alle da ist. Sie darf kein Privileg für eine Minderheit sein. Nicht jeder braucht sich für Haydn, Schubert oder Debussy zu interessieren, aber jeder sollte Zugang zu ihnen haben. Dieses demokratische Moment liegt mir sehr am Herzen, zumal es ja auch in der demokratischen Architektur des Scharoun-Baus zum Ausdruck kommt. Und ge nauso im neuen Konzertsaal von Frank Gehry in Los Angeles, in dem wir auf unserer USA-Tournee spielten. In beiden Sälen sind übrigens die teuersten Plätze vorne im Parkett. Und das sind akustisch nicht unbedingt die besten.

Klassik im 21. Jahrhundert: Was bedeutet das in Bezug auf das Repertoire?

Es erfordert Vielfalt. Wer nicht Bach spielt, kann der eigentlich Bruckner spielen? Bruckner ist wiederum gut für Sibelius, während unsere Art, Haydn zu spielen, von Strawinsky beeinflusst ist. Ja, ich meine es genau so: Haydn ist von Strawinsky geprägt. Der Einfluss der klassischen Werke aufeinander ist nicht geradlinig, sondern kreisförmig: ein musikalischer Zirkel. Wenn wir Ligeti gespielt haben, verändert das unsere Pastorale.

Heißt „demokratisch“ auch, dass man dem Publikumsgeschmack mehr entgegenkommt?

Manchmal bedeutet es das Gegenteil. Bei der New Yorker Aufführung von Debussys „La Mer“ saß die Hälfte des Publikums mit verschränkten Armen und abweisender Mimik da. Es war gekommen, weil es ein Porterhouse Steak wollte, stattdessen servierten wir ihnen eine unbekannte Speise. Die andere Hälfte des Publikums spitzte die Ohren, aber diese eine Hälfte blieb ungläubig bis zum Schluss. Wo ist mein Steak?, fragten sie sich. Es wäre falsch, dem nachzugeben und kulinarische Bedürfnisse zu befriedigen.

Und wie klingt dieser andere Debussy?

Die erste „La Mer“-Probe war zum Schreien komisch: ein einziges Durcheinander. Aber dann begannen die Musiker, einander zuzuhören und das Stück verstehen zu wollen. Irgendwann können wir dann viel weiter gehen, zumal mit französischen Werken. Debussy sagt: Ich will ein Orchester ohne Füße. Die Musik muss fliegen. Die Deutschen haben bekanntlich ziemlich viel Bodenhaftung. Wir mussten also fliegen lernen mit großen, schweren Füßen. Ein Musiker des Chicago Symphony Orchestra sagte danach weinend: So werden wir nie spielen können. Nicht, weil die Chicagoer nicht auch sehr, sehr gut sind. Sondern weil sie, um so zu spielen, vieles verlernen müssten.

Was unterscheidet denn die europäischen Orchester von den amerikanischen?

Die Philharmoniker sind geprägt von Tiefgründigkeit und Transparenz. Das hat auch mit Scharouns Konzertsaal zu tun, dessen Akustik sich vom Samtklang des Wiener Musikvereins unterscheidet, aber auch nicht ganz so viel Lautstärke verträgt wie der Gehry-Saal in Los Angeles. Andererseits: Nicht jeder Konzertsaal muss für Elefanten ausgelegt sein. Oft tun es auch kleinere Tiere. Der Klang kommt hier in Berlin in tiefen Wellen von unten, gleichzeitig ist die Akustik sehr klar. Wir versuchen, diesen Widerspruch miteinander zu vereinen. Wobei die Philharmoniker bei aller Klarheit nicht analytisch sind. Sie zählen nicht! Sie machen es aus dem Gefühl heraus. Deshalb dauert es bei den Proben manchmal etwas länger.

Und die Amerikaner?

Die amerikanischen Orchester beherrschen ein Werk viel schneller. Sie zählen. Sieben Schläge Pause und dann, zack, der Einsatz. Manchmal denke ich, wir könnten ein bisschen davon gebrauchen. Aber dann denke ich wieder: Es geht nicht um Pünklichkeit, sondern darum, dass bestimmte Dinge sich aus einem bestimmten Grund zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignen. Die Philharmoniker zählen vielleicht nicht, aber sie atmen und bewegen sich gemeinsam. Das ist viel mehr wert. Das ist der ästhetische Unterschied: hier das rhythmisch zusammengefügte Orchester, dort das expressive.

Und letzteres ist Ihr Traum.

Wenn es gelingt, sind wir ein riesiges Kammerorchester. Eigentlich messe ich als Dirigent ja Zeiteinheiten und sorge für Effektivität. Wenn wir vom Geist der Kammermusik beseelt sind, bin ich etwas anderes: Ich sorge dafür, dass die Musiker einander beim Spielen verstehen.

Haben Sie deshalb bisher keinen amerikanischen Chefdirigentenposten angenommen?

Manchmal war es schon sehr verlockend. Aber ich bin lieber dort, wo die Musik ihre Wurzeln hat. Die Musik kommt aus Europa.

Aus dem Alten Europa.

(lacht) Dank Donald Rumsfeld erfüllt uns diese Bezeichnung mit Stolz. In Europa ist klassische Musik ein fester Bestandteil der Kultur. In Amerika ist es ein kleines Marktsegment. Große Städte leisten sich einen Konzertsaal wie eine Bibliothek oder ein Baseballteam: als Teil dessen, was eine zivilisierte Gesellschaft ausmacht. Es gehört sich so, aber es gehört nicht unbedingt zum Leben dazu. Und das Publikum ist eine kleine, überschaubare Gruppe. Wer kann sich schon die teuren Tickets leisten! Wobei sich einige meiner amerikanischen Kollegen, wie Esa-Pekka Salonen in Los Angeles, auch um ein gemischteres, jüngeres Publikum bemühen. Als Chefdirigent in Amerika wäre es mein Job, den Leuten klarzumachen, dass es nicht nur um Unterhaltung geht, sondern um etwas Essentielles und Existenzielles.

Die USA-Reise war Ihre erste große Tournee mit den Philharmonikern. Jetzt musizieren Sie wieder in Berlin. Was bewirkt so eine Reise?

Wenn ein so großes und disparates Ensemble Erlebnisse teilt, wächst es zusammen. Weil wir die Stücke öfter spielen, als wir es in Berlin je tun, können wir weiter gehen als sonst. Das Rollfeld ist ausgelegt, das Flugzeug startklar, wir heben jetzt wirklich ab – und jedes Mal hat die Reise ein anderes Ziel. Ich riskiere lieber etwas, als auf Nummer Sicher zu gehen. Das Leben ist ja auch keine Probe. Genauigkeit ist wichtig, aber nicht entscheidend. Rafael Kubelik hat einmal zu seinen Musikern gesagt: Wie kommen Sie darauf, dass Vollkommenheit Genauigkeit bedeutet? Gibt es nicht ein paar interessantere Arten der Vollkommenheit als die Präzision?

Apropos: Was macht Ihr Deutsch?

(auf deutsch): Es wird immer mehr. Aber es wird nicht besser.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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