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Kirche als Zuflucht. Oppositionelle übernachten in der Mikhailovsky Zlatoverkhy Kathedrale in Kiew.

© David Mdzinarishvili/Reuters

Das Lehrstück Ukraine: Auf der Bruchlinie zwischen Ost und West

Das Drama in der Ukraine ist ein Lehrbeispiel für die historischen und kulturellen Gegensätze zwischen Ost und West. Da prallen Kulturen aufeinander.

Die Bilder aus Kiew machen fassungslos: Wie kann es heute in Europa noch zu solch explosionsartiger Gewalt kommen? Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer ohne Schusswechsel. Friedliche Revolutionen in Polen, Ungarn, Tschechien fegten den Eisernen Vorhang hinweg. Bald darauf erlangten die Baltischen Staaten ihre Freiheit, zerfiel die Sowjetunion. Doch heute ist ein Schießbefehl wieder möglich, wie vor 1989. Wie anders soll man es nennen, wenn Scharfschützen auf Demonstranten wie auf Hasen schießen?

Die Situation der vergangenen Wochen in der Ukraine macht ratlos. Warum kann die EU, die größte Wirtschaftsmacht der Erde, so wenig ausrichten? Was ist das für ein Umgang, wenn die Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der EU aushandelt und paraphiert, ihr Präsident aber im letzten Moment die Unterschrift verweigert? Wenn nun fast täglich Waffenstillstände und Kompromisse vereinbart werden, die dann aber wenig wert sind? Warum stürmen Demonstranten mit Molotowcocktails ins Feuer der Scharfschützen, obwohl dort bereits Mitstreiter niedergeschossen wurden? So vieles, was in Kiew geschieht, entzieht sich unserem Verständnis. Auf wen und auf was ist dort überhaupt Verlass?

Da prallen Kulturen aufeinander. Geografisch mögen die Ukraine und Russland (bis zum Ural) zu Europa zählen wie Polen, Frankreich und Spanien. Historisch, kulturell und auch konfessionell haben sie andere Prägungen erfahren – was nicht heißt, dass die Ukraine mit Russland gleichzusetzen wäre. Die bedrückende Entwicklung dort ist vielmehr eine historische Lehrstunde, wie sehr Geschichte und Kultur diesen Raum samt seinen Bewohnern im Griff haben.

In Polen hatte die Kirche eine Schlüsselrolle beim friedlichen Machtwechsel

Die Ukraine, das besagt schon ihr Name, liegt „an der Grenze“. Die Länder westlich von ihr – und ihr heutiger Westteil, der früher zu Polen gehörte –, wurden vom römischen Christentum geprägt, das zu Aufklärung und der bürgerlichen Emanzipation, die zu Demokratie und unserem Verständnis individueller Grundrechte führte. Im Ostteil der Ukraine und östlich von ihr herrschen bis heute Orthodoxie und Autokratie. In Polen hatte die Kirche eine Schlüsselrolle beim friedlichen Machtwechsel, für alle Lager war sie eine Autorität. In der Ukraine fehlt eine solche Instanz. Mehrere orthodoxe Konfessionen kämpfen um Gläubige, Macht und Kirchenbesitz; die größte untersteht dem Moskauer Patriarchat; eine zweite versteht sich national unter einem Kiewer Patriarchen; eine dritte ist autokephal; die unierte Kirche mit ihrer von der Grenzlage bestimmten Tradition pflegt den orthodoxen Ritus, hat sich rechtlich aber Rom unterstellt.

Diese Prägungen spiegeln sich in den Methoden im Ringen um Anbindung an Russland oder Öffnung nach Westen. Moskaufreunde stellen es so dar, als wolle die EU böswillig etablierte Einflusssphären verändern und eine eigentlich zu Russland gehörende Region zu einer Neuorientierung verführen. Dazu zählt auch die Behauptung, Ost und West betrieben hier Machtpolitik mit sehr ähnlichen Methoden. Das ist plumpe Propaganda.

Das Gefühl europäischer Ohnmacht resultiert doch gerade daraus, dass die EU und Russland ganz verschieden agieren. Die EU will attraktiv sein, möchte den Systemwechsel durch Belohnung fördern, bietet Partnern mehr Marktzugang an, als sie für sich fordert. Russland möchte nicht geliebt, es will gefürchtet werden. Es lässt ukrainische Waren nicht ins Land, um die Abkehr von der EU zu erzwingen, setzt den Gaspreis als Erpressungsmittel ein und macht die angebotenen Finanzhilfen davon abhängig, dass Präsident Janukowitsch „die Ordnung wiederherstellt“. Im Klartext: Ohne Schießbefehl keine Kredite! Lässt sich der „Clash of civilizations“ deutlicher illustrieren? EU-Europa hat Moskaus Entschlossenheit zu brutaler Machtpolitik sträflich unterschätzt. Der Georgienkrieg hätte als Warnung dienen können.

Die schwierige Geschichte, die Lage an einer Kulturgrenze, das Fehlen zivilgesellschaftlicher Autoritäten sind freilich kein Grund, die Hoffnung auf die Ukraine aufzugeben. Sie sind lediglich eine Erklärung, warum das Land sich so viel schwerer tut als seine Nachbarn Polen, die Slowakei und Ungarn beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft. Die EU darf darauf vertrauen, dass ihr Modell für die Mehrheit der Ukrainer langfristig attraktiver ist als das russische.

Die Ukrainer sind eine verspätete Nation

Europa muss viel Geduld aufbringen und in längeren Zeiträumen denken. Viele Faktoren, die den Weg der Mitteleuropäer in die EU erleichterten und ihre inzwischen zehn Jahre Mitgliedschaft zu einer Erfolgsstory machten, fehlen in der Ukraine – ganz voran der Stolz auf erfolgreiche Phasen der Eigenstaatlichkeit und der (wenn auch nur kurzen) Demokratie zwischen den Weltkriegen. Die Ukrainer sind eine verspätete Nation. Bis ins 19. Jahrhundert galten sie als Bauernvolk und ihre Sprache als Dialekt. Eine breite Herrschaftsschicht, die mit den geistigen Strömungen Westeuropas vertraut war oder gar an den Universitäten dort studiert hatte, fehlte. Kompensationsversuche, die Kiewer Rus oder das Kosakentum als Vorläufer nationaler Eigenstaatlichkeit in Freiheit zu deuten, wirken etwas bemüht. Die gescheiterten Versuche zur Staatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg bieten wenig Anknüpfungspunkte für Souveränitätsbestrebungen.

Angesichts dieses Startnachteils ist die Entwicklung ukrainischen Selbstverständnisses in den wenigen Jahren seit der Unabhängigkeit 1991 bewundernswert. Die große Mehrheit der Bürger will gewiss nicht in eine Union mit Russland zurück; das weisen die Volksabstimmungen und Umfragen aus. Selbstbewusstsein bezieht die Ukraine daraus, dass sie das Herz der sowjetischen Industrie war und dass einzelne Produkte, zum Beispiel Antonow-Flugzeuge, auch im Westen geschätzt werden.

In der explosiven Lage ist nun das Wichtigste, den Druck herauszunehmen, als müsse die Ukraine sich rasch zwischen Ost oder West entscheiden. Diese Frage darf in der Schwebe bleiben. Das Misstrauen zwischen dem Präsidentenlager und der Opposition ist jedoch so groß – und nach der Gewalt und den vielen Toten weiter gewachsen –, dass Vermittlung von außen nötig ist, um den Weg zu einer friedlichen Entwicklung zu öffnen, in der die Bürger mit dem Stimmzettel über den weiteren Weg entscheiden.

Doch selbst in dem aus europäischer Sicht besten Fall – dass das Oppositionsbündnis die Wahl gewinnt –, wird die Ukraine Europas Geduld noch oft strapazieren. Die neue Regierung wird Hilfe brauchen und selbst, wenn die kommt, die Hoffnungen enttäuschen. Es ist nur natürlich, dass dieses Bündnis über kurz oder lang zerfällt. Geeint wird es heute durch die Opposition zu Janukowitsch. Auf die Dauer ziehen Pro-Europäer und Nationalisten nicht an einem Strang. Auch in Staaten wie Polen und Tschechien mit ihren weit günstigeren Bedingungen hat sich kaum eine Regierung der Wendezeit länger als zwei Jahre gehalten. Die Ausdifferenzierung divergierender Interessen ist notwendig für die Bildung eines Parteienspektrums.

Eine Ukraine, die sich alle zwei Jahre von Regierungskrise zu Regierungskrise und von Parteispaltung zu Neugruppierung hangelt, ist allemal besser als die Gewaltexzesse dieser Tage. Irgendwann wird auch dieses Land in Europa ankommen. Mit Europas Hilfe.

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