zum Hauptinhalt

Kultur: Das Leiden der Anderen

James Nachtwey ist der berühmteste Kriegsfotograf unserer Zeit. Sein Monumentalband „Inferno“ zeichnet das Bild der neuen Kriege

Es gibt ein Bild von 1994, auf dem ein schwarzer Mann in Zivil und mit Sturmgewehr über eine Straße bei Johannesburg läuft, auf der überall Menschen liegen. Offenbar erwartet er, von irgendwo her beschossen zu werden, und die anderen, die sich flach auf den Asphalt geworfen haben, erwarten das auch. Nur einer kauert nicht am Boden. Während der Kalaschnikow-Krieger auf ihn zurennt, streckt er sich ihm entgegen – und macht ein Bild.

Aus Bildern, vor allem aus solchen Fotos, lernen wir, was Kriege sind. Und doch, meint Susan Sontag, folgten sie einer Rhetorik: „Sie insistieren. Sie vereinfachen. Sie agitieren. Sie erzeugen die Illusion eines Konsensus .“ Und wie alle Rituale, in denen Argumente die Form von Parolen annehmen, sind sie am Ende nur eine Bestätigung dessen, was wir ohnehin schon wissen. Eine hohle Geste.

Was aber sollen Kriegsfotos bewirken? Wenn Susan Sontag an diesem Wochenende in Frankfurt der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird, dann auch, weil sie eine überzeugende Antwort auf diese Frage gefunden hat. Eine Frage, die direkt ins Herz unserer Kultur des Mitleids zielt. Dabei ist Sontags im Hanser-Verlag erschienener Essay „Das Leiden anderer betrachten“ (München 2003, 150 Seiten, 15,90 Euro) eine Reaktion auf das kurze „goldene“ Zeitalter der Fotoreportage der Neunzigerjahre. Damals schwärmten idealistische Grenzgänger wie James Nachtwey, Gilles Peress, Luc Delahaye oder Chris Steele-Perkins in jene „dreckigen“ Krisenherde aus, die niemanden zu interessieren schienen. Gleichwohl wuchs im Nachrichtenschatten der Medien ein neuer Kriegstypus heran, eine Form der terroristischen Kriegsführung, bei der Volksgruppen gegeneinander aufgehetzt werden, Staaten zerfallen und um Reichtümer gekämpft wird, die unsichtbar bleiben. Mit welcher Bestialität sich hier ethnische, religiöse oder wirtschaftliche Vernichtungswellen über ganzen Landstrichen entluden, wollte der Westen lange nicht wahrhaben. Und so waren es Bilder, in denen das anonyme Grauen auf menschliche Einzelschicksale reduziert, gewissermaßen eingefroren wurde, die den Industriestaaten zumindest humanitäre Hilfslieferungen abzuringen vermochten.

Zu einem Helden dieses Jahrzehnts wurde James Nachtwey. Der schlanke, hochgewachsene, elegant-lässige Amerikaner, der meist ein schlichtes, weißes Hemd und Jeans trägt, gilt als Kriegsfotograf schlechthin. „War Photographer“ heißt denn auch eine Dokumentation über den Mann, der häufiger als jeder andere den Robert Capa-Preis empfangen hat (fünf Mal) und behauptet: „Ich bin unwichtig, meine Bilder zählen.“ Er war es, der im Kreuzfeuer von ANC- und Inkatha-Anhängern nicht aufhörte, Bilder zu schießen und sich dabei selbst zur Zielscheibe machte.

Dass der 54-jährige Nachtwey heute als Prototyp einer Reporter-Kaste verehrt wird, die in ständiger Todesgefahr durch die Elendsregionen der Erde streift, hat mit seiner asketischen Aura zu tun. Er verkörpert wie kein anderer das Ethos des modernen Kreuzritters. Von dem Glauben beseelt, die Welt retten zu können, setzt er mit seiner Kamera die Tradition der literature engagé fort. „Es würde keinem Fotografen nützen, vor dem Grauen zurückzuschrecken und zu sagen: Das kann ich nicht mitansehen“, lautet seine Losung. „Meine Aufgabe ist es, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.“

Nichts unterstreicht dies deutlicher als der nun erstmals auf deutsch herausgegebene Monumentalband „Inferno“ (Phaidon Verlag, Berlin 2003, 480 Seiten, 125 Euro). Dessen 382 Schwarzweiß-Aufnahmen bilden einen Querschnitt durch die Bürgerkriege und Flüchtlingsdramen der Neunzigerjahre. Ihre Wucht entfalten die endlosen, schmerzhaft genauen Bilderfolgen aus Somalia, Sudan, Bosnien, Tschetschenien und Zaire durch die enervierende Ausdauer, mit der der Fotograf immer wieder hinguckt. Die Leute verenden vor unseren Augen. Selbst wenn sie tot sind, gibt Nachtwey sie nicht auf, sondern berichtet noch, wie sie in Decken und Plastikfolien gewickelt irgendwo verscharrt werden. Wenn es noch etwas zu verscharren gibt, denn oft stößt der Spurenleser nur noch auf verweste Kadaver, Knochen und Kleiderfetzen, die in der Hitze zerfallen. Seht her, wollen solche Bilder sagen, warum nur muss so etwas geschehen.

Nachtweys Arbeit ist ein Reflex auf die Vietnam-Reportagen von Larry Burrows, Don McCullen oder Eugene Smith. Beinahe ehrfürchtig nennt er deren Wirkung auf „Amerika und mich selbst“ als Initiationserlebnis. Er brach eine Anwaltskarriere ab, verdingte sich als Matrose und Lkw-Fahrer und unterwarf sich bei einer Provinzzeitung in New Mexico der Fron eines Pressefotografen. 1981 erlebte er in Belfast seine Feuertaufe.

Seither begleitet ihn allerdings auch der Vorwurf, seine Bilder seien zu schön, um wahr zu sein. Selbst der Schriftsteller Luc Sante findet es im Vorwort „beunruhigend, dass Nachtweys Bilder immer Kompositionen sind“. Er sei „so viel Anti-Krieg, wie Herb Ritts Anti-Mode ist“, lästerte die „Village Voice“. Und Mark Terkessidis bezeichnete ihn im Tagesspiegel als „Freak des Krieges“ (25. Februar 2003), dem das Leiden anderer höchst private und voyeuristische Erfahrungen verschaffe. Nie würde Nachtwey die Kontrolle über seine exquisite künstlerische Gestaltung verlieren. Vielmehr würde er sich nur soweit in das Elend des Krieges hineinbegeben, wie es seinen ambitionierten Kunst- Anspruch nicht gefährde. In Nachtweys Kamera-Blick sei die Welt des Krieges, so Terkessidis weiter, „zum Material einer Symbolisierung“ geworden: „Dem Westen gilt der Fotograf als der wahre Krieger.“

Schon Susan Sontag hatte in den Siebzigerjahren in dem Standardwerk „Über Fotografie“ beklagt, der Erkenntniswert der fotografischen Botschaft sei dadurch begrenzt, „dass sie, obzwar sie das Gewissen anzustacheln vermag, letztlich doch nie ethische oder politische Erkenntnis sein kann“. Die Erschütterung, die der Anblick von Planierraupen verursacht, die Abertausende von Cholera-Leichen zusammenschieben und in Massengräber wälzen (wie in Zaire von Nachtwey festgehalten), sagt nichts über die Ursachen dieser humanitären Katastrophe aus. Es ist nur die logische Konsequenz von etwas, das wir nicht mögen und doch hinnehmen. Aber spricht das gegen die Kriegsreportage? Wie gewinnen Kriegsbilder unter den medialen Bedingungen der Ästhetisierung ein politisches Gewicht? Reicht es aus, sie für wahrer zu halten, je schlechter sie gemacht sind?

Seit Lessing mit seiner Erörterung des Laokoon-Problems über die ästhetische Vermittelbarkeit des Schreckens nachdachte, ist der Nutzen solcher Schocktherapien immer wieder angezweifelt worden. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Susan Sontag nun in der Darstellung des Leidens die religiöse Kraft der Entgrenzung wiederentdeckt. Ein Opfer, dessen Schicksal ohne Schmerz bleibt, ist ein furchtbarer Triumph der Abstraktion. „Das Spektakuläre“, sagt Sontag, „ist ein wesentliches Element der religiösen Erzählungen, in denen sich das Abendland über weite Strecken seiner Geschichte mit dem Leiden auseinandergesetzt hat.“ Das heißt: Der Widerspruch zwischen einem Leiden, das niemand sehen will, und seiner dramatisch überhöhten Inszenierung wird zur einzigen Garantie, dass wir nicht wegsehen. Dass es Teil einer Erschütterung wird, die sich nicht abnutzt.

„Inferno“ versammelt eine Reihe solcher Aufnahmen, die sich aus dem visuellen Gedächtnis der Neunzigerjahre nicht mehr wegdenken lassen. So wie das Porträt eines von Machetenhieben gezeichneten Hutu-Jungen, in dem sich die Tragödie des ruandischen Völkermords spiegelt. Oder das Bild des unter einer Decke versteckten Sudanesen, der in einem Notaufnahmelager auf Hilfe wartet - zu schwach, um die Wasserschale zu erreichen, die nur wenige Zentimeter entfernt steht. „Kann man sagen“, fragt Sontag, „dass Menschen sich an solche Bilder gewöhnen?“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false