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Kultur: Das liebe Vieh

Lortzing so fern: Nigel Lowery inszeniert an der Staatsoper Stuttgart den „Wildschütz“

Die eine Geschichte ist so hanebüchen und dämlich wie die andere. Die eine erzählt von der „armen, armen“ Marie, die den Gesellen Konrad liebt, der in Wahrheit ein Ritter ist und Graf, welcher von den Intrigen seiner früheren Geliebten, des Fräuleins von Katzenstein, verfolgt wird, die selbst freilich gar nicht in Erscheinung tritt. Am Ende aber kriegen sie sich, der Graf und Marie, und die Musik gibt ihren volksweislich-gediegenen Segen dazu. Die andere Geschichte erzählt von Gretchen, der Braut des Schulmeisters Baculus, die, weil ihr Zukünftiger für die Hochzeit einen Rehbock gewildert hat, beim Grafen ein gutes Wort für ihn einlegen soll, woran der eifersüchtige Baculus überhaupt nicht interessiert ist, weshalb die als Student maskierte Baronin, die Schwester des Grafen, diesen Part übernimmt und sich kurzerhand in Gretchens Kleider stürzt. Nach wüsten Verwirrungen und Kapriolen – die Gräfin schwärmt für die alten Griechen, um die berühmten „5000 Taler“ verkauft Baculus seine Braut – kriegen sich auch hier die Richtigen, und der Schulmeister wird rehabilitiert: Statt des Rehbocks nämlich hat er in der Dunkelheit bloß seinen eigenen alten Esel erschossen.

Die eine komische Oper heißt „Der Waffenschmied“, die andere „Der Wildschütz“. Die eine geht auf einen gewissen Friedrich Wilhelm Ziegler zurück, die andere auf Kotzebue – und beide sind von Albert Lortzing. Nun fiele es auch bei manchen Stücken von Donizetti, Rossini oder Verdi, ja sogar bei Wagner und Richard Strauss nicht allzu schwer, die jeweilige Handlung als puren Nonsense-Plot an den Pranger der aufgeklärten Postmoderne zu stellen. Bei Lortzing indes, dem preußischen Biedermeierling, dem Kleinkleinmeister des deutschen Opernlustspiels, kommen zwei Dinge hinzu, die die Sache kolossal erschweren: Das eine ist das unerlöst Zeitstückhafte seiner Werke, ihre Verwurzelung im Historisch-Politischen (beide Opern entstehen in den 1840er Jahren), die doch eine gewisse Bildung voraussetzt, einen Code, um zu dechiffrieren, was sich an Allusionen und versteckten Botschaften zwischen all dem Butzenscheibenseligen so tut. Das andere ist die Musik, jener immer noch und immer wieder von Mozart inspirierte Singspielton, jener empfindsame Humor, der sich – anders als die italienische Buffa, die französische Comique und insofern wohl: genuin romantisch – mehr nach innen wendet, an den verlorenen, verloren geglaubten Herzensgrund, und der darin bestenfalls didaktisch wirkt und tümlich, niemals aber ätzend oder scharf.

Zweimal nun und sehr verschieden hat man sich in jüngster Zeit an Lortzing versucht. Und zweimal schlugen diese Versuche gründlich fehl, was die Frage aufwirft, ob dieser Komponist uns nicht in einer Weise fremd geworden ist, die jede Selbstverständlichkeit des Umgangs mit ihm verbietet. Katharina Wagner jedenfalls hatte mit ihrem „Waffenschmied“ am Münchner Gärtnerplatztheater lediglich mitzuteilen, dass sich hier in kühnen Epochensprüngen zwischen den Ständen und Geschlechtern allzeit Gesellschaftspolitisches und also: potenziell Übertragbares ereignet. Dabei wird diese Übertragung, dieses Begreiflichmachen nicht einmal im Ansatz geleistet, weder handwerklich noch ästhetisch.

Und auch Nigel Lowery weiß an der Stuttgarter Staatsoper mit dem „Wildschütz“ traurigerweise wenig mehr zu sagen als eben dieses. Bei Lortzing dräut und schlummert etwas, so die Erkenntnis in beiden Fällen, wir wissen bloß nicht was – und bringen folglich weder die Kraft noch die Liebe auf, uns seiner Komik (und Tragik!), diesem gleichsam naiven Verrücken und Verrutschen der Welt, wie sie ist, wirklich zu stellen.

Der Konflikt, er trägt sich in Stuttgart somit weit weniger auf der Szene zu – wo Baculus und Gretchen (sehr marthalerisch: Roland Bracht, entzückend zwitschernd: Irena Bespalovaite), Graf und Gräfin (Christoph Sökler, Helena Ranada) nebst Baron und Baronin (Jeff Martin, Alexandra Reinprecht) durch mehr oder weniger muntere Bilderfolgen purzeln – als vielmehr zwischen Bühne und Saal. Denn was da oben verhandelt wird, die Utopie vom gesellschaftlichen „Frohsein“, wechselweise in seiner sozialistischen, eskapistischen und kapitalistischen Darreichungsform, ist allenfalls mit Hilfe des Programmheftes zu verstehen.

Lowery, der Engländer, will Satire, Ironie, eine „schwarze Komödie“ – und schafft es inmitten linolschnittartiger Hochhausfassaden doch nur bis zum ausgestopften Schäferhund und dahin, dass Pankratius, der Diener aus dem Gruselkabinett (grandios knarzend: Jörn W. Wilsing), als running gag des Abends immerzu seine linke Hand verliert. Für Lortzings Musik, der Constantinos Carydis am Pult des Württembergischen Staatsorchesters eine flotte, leichtfüßige und klanglich interessant aufgeraute Prägung angedeihen lässt, ist das zu wenig. Weder dem Abgründig-Heuchlerischen der Geschichte wird so Genüge getan noch ihrem Ernst, ihrem verschämten Sehnsuchtsrütteln an der wahren Liebe, dem wahren Gefühl, dem wahren, guten, schönen Leben.

Die Dialoge übrigens verlegt Lowery – was listig ist und den ästhetischen Sprüngen, dem Montagecharakter der Partitur gehorcht – über weite Strecken ins Kino: Wie in einem frühen rumpeligen Tonfilm und sehr hübsch quäkend finden sich die Figuren hier plötzlich auf zwei kleinen Leinwänden wieder. Lortzing in die Zukunft entrückt. Ansonsten aber machte sich eher Ratlosigkeit breit. Ob es so richtig war von Klaus Zehelein, Nigel Lowery, den sprühend-witzigen Barock-Spezialisten, mit etwas witzig Gemeintem, nämlich mit einer komischen Oper zu betrauen? Im Mai präsentiert Lowery an der Berliner Lindenoper Rossinis „L‘Italiana in Algeri“. Das ist dann wenigstens kein deutsches Stück.

Christine Lemke-Matwey

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