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Kultur: Das nackte Leben

Zum Tod des marokkanischen Schriftstellers Mohamed Choukri

Von Gregor Dotzauer

Er war die Stimme der Ärmsten von Tanger – auch wenn sie ihren wahren Ton erst verspätet entfalten konnte. Das Leben hatte Mohamed Choukri, 1935 im marokkanischen Rif geboren, fast alles über Hunger, Elend und Diebereien gelehrt. Wie man seine eigene Geschichte an den Mann bringt, ohne übers Ohr gehauen zu werden, hatte es ihm nicht beigebracht.

Die ersten englischen Übertragungen seines autobiografischen Romans „Das nackte Brot“, die Paul Bowles besorgte, stammten nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Spanischen, wie es Choukri seinem amerikanischen Freund mehr recht als schlecht in die Feder diktierte. Der Wahlmarokkaner Bowles, der sich als Gegenleistung das Copyright von vier Büchern sicherte, war es auch, der Choukri 1972 mit dem englischen Verleger Peter Owen zusammengebracht hatte. Owen überredete den zuvor nur mit Novellen und Essays für Tageszeitungen hervorgetretenen Autor, für das läppische Honorar von hundert Pfund zum Abfassen seiner Autobiografie, die auf Deutsch anfangs in Hans Magnus Enzensbergers Anderer Bibliothek erschien. Sie machte ihn weltberühmt. Ihr erster Teil – der zweite Teil „Zeit der Fehler“ folgte erst 17 Jahre später – blieb sein Meisterwerk.

Die Kraft seiner Bücher war weder ihre Authentizität noch ihre Brutalität, die mit einer großen Zärtlichkeit für die Bettler und Huren konkurrierte, die seine Helden waren. Ihre Kraft kam wie bei jedem großen Schriftsteller aus der Sprache: einer knappen, farbigen, beweglichen Sprache, die hart erkämpft wirkte, aber aus einer natürlichen mündlichen Erzähltradition stammte.

In Wahrheit war Choukri ein Wilder, der Literatur erst las, seit er schrieb, wie sein deutscher Übersetzer Georg Brunold notierte. Auch die schriftstellerische Anerkennung änderte nur wenig an seinem Nomadenleben. Er schlief weiter in den Pensionen der Altstadt von Tanger und lebte in den Straßencafés.

Neun Jahre arbeitete er als Grundschullehrer, vor Klassen mit bis zu fünfzig hungrigen und abgerissenen Schülern. Dann brachte ihn ein Nervenzusammenbruch für vier Monate in die Psychiatrie – die Literatur rettete ihn zumindest vor dieser Art von Selbstzerstörung. Den Alkohol wurde er trotzdem nicht los. Kurz vor seinem 60. Geburtstag diagnostizierten die Ärzte bei ihm eine Leberzirrhose. Am Samstag ist Mohamed Choukri im Alter von 68 Jahren in Marokkos Hauptstadt Rabat gestorben.

Die letzten Sätze von „Das nackte Brot“ lauten: „Die Kleinen, wenn sie sterben, werden Engel, die Erwachsenen Teufel. Es ist zu spät, dass ich ein Engel werde.“ Dass er einer der größten Schriftsteller wurde, die das Maghreb in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, war zwischen den Engeln und den Teufeln der beste Kompromiss.

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