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Kultur: Das neue Marthaler-Viebrock-Henneberger-Projekt stimmt merkwürdig ratlos

Die Ansage zur zweiten Vorstellung macht der Regisseur höchstpersönlich. Haben Sie keine Angst, meine Damen und Herren, brummt Christoph Marthaler mit streichelweichem Bariton, unserer Sopranistin, der Rosemary Hardy, fehlt nichts an den Stimmbändern.

Die Ansage zur zweiten Vorstellung macht der Regisseur höchstpersönlich. Haben Sie keine Angst, meine Damen und Herren, brummt Christoph Marthaler mit streichelweichem Bariton, unserer Sopranistin, der Rosemary Hardy, fehlt nichts an den Stimmbändern. Eher an ein paar anderen Bändern, an denen des linken Fußgelenks nämlich. Aber irgendwie will der Witz nicht recht zünden. Deshalb also ihre schneeweißen Gesundheitsschuhe, deshalb das leise Humpeln, welches sich beides gar nicht schlecht macht, denn Frau Hardy spielt hier ein spätes Mädchen, eine Engländerin, eine Verrückte. Kurz und gut: eine Frau zwischen Depression und Melancholie, zwischen Verzückung und Verzweiflung. Eine echte Marthaler-Viebrock-Frau eben in ihrem bordeauxroten Strickkostüm, der altmodisch ondulierten Frisur. Womit der Erklärungen eigentlich genug abgegeben wären. Marthaler hat aber doch noch etwas zu sagen. Ansonsten, so versichert er, sei alles, wie es immer sei. Und einen recht schönen Abend noch.

Gleichwohl stimmt einen das neue Marthaler-Viebrock-Henneberger-Projekt am Theater Basel merkwürdig ratlos. Klug gedacht ist es (Dramaturgie: Ute Haferburg), geradezu fantastisch in seinen körperkultisch-akrobatischen Choreografien, ebenso gewitzt wie oftmals witzig im musikalischen Arrangement und von wahrhaft königlich-circensischem Anspruch für die ganz wunderbaren Darsteller, die da Altea Garrido, Christoph Nodino Homberger, Thomas Stache, Graham Valentine und Markus Wolff heißen. Und natürlich Rosemary Hardy. Warum also sitzen wir vor diesen virtuosen Künstlern, erschaudern hier, grinsen da - und lassen uns doch nicht wirklich berühren, bleiben kühl in der Seele, dividieren, konstatieren, analysieren, statt zu fühlen, mitzufühlen, was der Grund des modernen menschlichen Elends ist?

"20th Century Blues" heißt dieser Abend und folgt (nicht nur) darin dem britischen Multitalent Noel Coward, der Ende der 20er Jahre mit dieser Nachtclub-Nummer, einem Song voller Traurigkeit und bitterer Laszivität, sein Musical Play "Calvacade" beschloss. Wie ein roter Faden zieht sich das Stück durch das rund zweistündige, pausenlose Programm, mal einstimmig und a cappella dargeboten, mal für großes Orchester gesetzt, mal Gustav Mahler buchstäblich ins Wort fallend, mal Liedern von Berg, Messiaen, Strawinsky und Schostakowitsch frech die Stirn bietend. Ein Schwanengesang, alles in allem, auf unsere jüngste Vergangenheit?

Mit ihren "Interieurs" (so der beziehungsreiche Untertitel), ihren klaustrophobisch-realen Innenräumen haben Christoph Marthaler und Anna Viebrock dem Theater der frühen 90er Jahre einen höchst prägnanten, ja stilbildenden Stempel aufgedrückt: Menschen wie du und ich, Menschen in ihrer mehr oder weniger schmuddeligen Alltäglichkeit stehen auf der Bühne im wahrsten Wortsinn mit den Gesichtern zur Wand, werden von spastischen Zuckungen heimgesucht, gehen an ihrer Einsamkeit, ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Trübsal qualvoll zugrunde. Heute, gut zehn Jahre später, müssen Marthaler und Viebrock, muss ihr "Modell" - das bis in den letzten Winkel der Theaterprovinz hinein dankbare Nachahmer gefunden hat - gewiss nicht neu erfunden werden. Die Frage, die sich nach "20th Century Blues" allerdings stellt (und nicht erst jetzt!), ist, wie lange diese ästhetische Versuchsanordnung noch ihre Gültigkeit bewahrt. Haben wir uns am Schmuddel-Look des Lebens, der ja doch immer nur der Schmuddel-Look des Lebens der anderen ist, nicht längst satt gesehen? Brauchen wir für das 21. Jahrhundert nicht ganz andere, neue, ungeahnte Metaphern, Entwürfe, ja: Utopien?

Im Rückgriff auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre Musik, im Rückgriff also auf alles, was da klischeehaft Weltschmerz heißt und Zeitenwende und Bruch letzter Tabus, statuiert Jürg Henneberger ein anachronistisches Exempel. Die Fin-de-Siècle-Stimmung, die die Menschheit vor hundert Jahren erfasste, so die These seines Musikprogamms, sie ist uns sehr vertraut. Ja, im Grunde ist sie uns, die wir alles Zeitgenössische in Kunst und Musik lieber leugnen, sehr viel vertrauter als unser eigenes, aktuelles Jahrhundertwende-Gefühl (falls wir denn wirklich eins haben). Insofern spricht auch Anna Viebrocks Raum, der quasi naturalistisch nachgebaute Oberlichtsaal des Basler Naturhistorischen Museums, wahrlich Bände: als Ort gesellschaftlich verabredeten Gedenkens und Bewahrens, als Synonym für Stillstand, Erstarrung, Lähmung.

Mit den Menschen steht auch deren Kunst zur Disposition. Nicht nur, dass Christoph Homberger, der Tenor, sich den Zutritt ins Museum von unten, also durch die splitternden Bretter des Parkettbodens hindurch erkämpfen muss. Auch im Singen findet er wenig Frieden. Zum "Trinklied" aus Mahlers "Lied von der Erde" etwa verschnürt man ihm Kopf und Gesicht mit einem Klebestreifen, so lange und so fest, bis die Nase verrutscht, die Backen sich in Wülste teilen - und er endlich röchelnd schweigt. Zum "Abschied" wiederum zerlegt Rosemary Hardy ihr geliebtes Akkordeon und bevölkern plötzlich mehrere stumme Zwillingspaare den Raum. Die Geburt des Klons aus dem Geist der Tristesse? Die ganze Welt im Silberblick? Die Kunst, sagen diese Bilder, war dem Menschen im 20. Jahrhundert kein guter Helfer. Diesen Ball geben wir gerne zurück. In aller Höflichkeit.

Christine Lemke-Matwey

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