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Kultur: Das Orakel von Boston

Der Schriftsteller Richard Powers berichtet von der vollständigen Entschlüsselung seines Genoms

Von Gregor Dotzauer

Um zu begreifen, wie uns geschieht, haben wir wie bei allen Einschnitten in der Geschichte des Bewusstseins nur den Bruchteil einer evolutionären Sekunde. Das individuelle Abenteuer, das Richard Powers in seiner Reportage „Das Buch Ich # 9“ beschreibt, wird für künftige Bewohner dieser Welt Alltag sein. Der Spalt, der sich jetzt noch auftut, um die vollständige Entzifferung des eigenen Genoms herbeizusehnen oder sich ihr zu widersetzen, wird sich geschlossen haben.

Alles, was sich Powers fragte, als er im Auftrag der Zeitschrift „Gentleman’s Quarterly“ vor zwei Jahren daranging, unter den Fittichen der Harvard-Koryphäe George Church der neunte Teilnehmer des Personal Genome Project (PGP) zu werden, wird faktisch entschieden sein. Ob die Informationen über die genaue Zusammensetzung der sechs Milliarden Nukleotide, die jeden von uns ausmachen, in private oder in öffentliche Hände gehören. Ob es medizinisch nützt und gesellschaftlich schadet. Oder ob man, wenn das, was derzeit noch Unsummen kostet, durch industrielle Herstellung für ein Taschengeld bekommt, überhaupt noch das Gefühl entwickeln kann, dem Schicksal in die Karten zu schauen.

Jedes Nachdenken aber, das uns zumindest suggeriert, dass wir die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen hätten, ist ein gutes Nachdenken. Absurd ist höchstens, dass wir Diskussionen über Street View und Google Earth führen, das Powers als Metapher für die Kartografierung des menschlichen Genoms benutzt, während die Beschäftigung mit der massenhaften Sequenzierung unserer Erbanlagen als Angelegenheit einschlägiger Wissenschaftsvisionäre gilt. Man kann sich mit Powers nicht oft genug klarmachen: „Ob wir dafür bereit sind oder nicht, die Welt des individuellen Genoms ist da.“

Powers musste nicht lange mit sich ringen, um das Experiment zu wagen und eine Reise nach Boston anzutreten. „Neugier“, sagte er sich, „ist vielleicht nichts weiter als Misstrauen unter dem Einfluss von Endorphinen.“ Voraussetzung waren in seinem Fall nur genetische Kenntnisse auf dem Niveau eines Magisterabschlusses. „Ich fing sofort mit dem Pauken an.“

Auf wenigen Seiten führt er seine Leser sicher und selbstironisch durch die Anfangsgründe der biologischen und philosophischen Probleme, mitten hinein in ein halb kommerziell, halb wissenschaftlich ausgerichtetes Institutionengewirr. Als Autor, der seit jeher Analytisches und Erzähltes zusammenbringt, untersucht er aber auch, wie Information zu Wissen wird und Wissen zu Erfahrung. Denn der USB-Stick, den er in einem Kästchen davonträgt, enthält eine Flut von Daten, die sich noch gar nicht interpretieren lassen.

Selbst wenn man es könnte, würde man zwar weitere genetische Risiken und Begünstigungen entdecken, aber nichts kausal Zwingendes: „Der Held befragt das Orakel, damit er dem, was das Orakel ihm prophezeit, aus dem Weg gehen kann. Leider kommt der Held in neun von zehn Fällen einfach nicht dahinter, was das Orakel ihm sagen will, bis sich irgendwann der Nebel lichtet und er lernt, die Botschaft zu entschlüsseln.“

Dieses kleine Buch ist das nichtfiktionale Pendant zu Powers’ exzellentem Roman „Das größere Glück“ (siehe Tagesspiegel vom 13.10.2009) – wenn er die Begriffe von Fiktionalität und Nichtfiktionalität nicht hier wie dort radikal in Zweifel ziehen würde. Denn das Genomprojekt verändert die Erzählbarkeit unserer Leben ein für alle Mal. „Das Buch Ich # 9“ ist die Chronik dieses evolutionären Augenblicks und, recht betrachtet, schon eine Erinnerung daran, wie uns hätte zumute sein können, wenn wir seine Bedeutung nur rechtzeitig verstanden hätten.

Richard Powers: Das Buch Ich # 9. Eine Reportage. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriel Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2010. 79 Seiten, 12 €.

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