zum Hauptinhalt

Kultur: Das Ornament der Krise

Produkte spielten in der Werbung lange keine Rolle mehr, es wurde ein Lebensgefühl beworben. Das ist bald vorbei. Die Leuten wollen Fakten, Fakten, Fakten

Eine Werbeagentur suchte Fotos von jungen Menschen zwischen 25 und 35, Bilder mit privatem, lebendigem, bewegtem Charakter. Menschen um die 30 galten lange als prototypische Werbefiguren. Sie verkörperten das Wunschbild des Durchschnittskonsumenten. Dass diese Altersgruppe zahlenmäßig schwindet, tat ihrer Attraktivität keinen Abbruch. Sie zeigte den für Marketingzwecke idealen Lebensabschnitt, in dem der Konsum schon beginnt, die Jugend aber noch nicht endet. Aus Sicht der Werbebranche waren die um die 30-Jährigen Wunschkonsumenten, keine Generation. Jede Generation durchläuft diese Phase.

Nach den Angaben der Werbeagentur sollten die Fotos der jungen Menschen neben den Abbildungen eines Autos in einer Broschüre gedruckt werden. Der Kunde, eine gut eingeführte Automarke, wollte einen Wagen im untersten Preissegment vorstellen. Die Anfrage kam letzten Herbst, als auf den vordersten Seiten der Zeitungen jeden Tag von sozialen Einschnitten, Reformen und „Hartz IV“ zu lesen war. Eine Fotografin, mit der ich befreundet bin, konnte passende Bilder in großer Menge anbieten. Sie hatte wenige Wochen zuvor Fotos für den Katalog eines spanischen Modelabels aufgenommen, das bunte T-Shirts entwirft, die es in China herstellen lässt und in Europa verkauft.

Diese Produktionsweise nennt man „Basarwirtschaft“. Produkte werden in der globalen Ökonomie dort produziert, wo Arbeitskraft am billigsten ist. Der Transport fällt kaum ins Gewicht. Güter, die für einen Euro am Hafen in Hamburg oder Rotterdam ankommen, erfahren erst im Inland eine erstaunliche Preissteigerung, oft bis zum Zehnfachen ihres Produktionswertes. Ein Reihe sekundärer Dienstleister schöpft den bei weitem größten Teil davon ab. Die Gewinne gehen an Händler, Agenturen und deren Dienstleister, wie zum Beispiel die Fotografin. Um die erhöhten Preise zu erzielen, müssen billig hergestellte Dinge aufgewertet werden. Bilder und Fotos stellten in den letzten Jahren ein ganz wesentliches Mittel in diesem Prozess der Aufwertung dar, der heute kein Privileg der „Global Players“ mehr ist. Selbst kleine Labels, wie sie zwei Mal im Jahr zur Bread&Butter-Messe in Berlin ganze Ausstellungshallen füllen, konnten und können sich an dem Spiel beteiligen. Sie produzierten und produzieren flexibel an den günstigsten Standorten und nehmen mit designten Billigprodukten den Kampf um Markenwerte und Marktnischen auf. Die Ware war lange nur noch ein Vorwand für den Kampf um Aufmerksamkeit. Seit den späten 80er Jahren wuchsen Marketingabteilungen ebenso wie Werbeagenturen. Der Kult um den Namen hat in den letzten Jahren ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm entfaltet.

Bei dem Shooting für den Katalog der spanischen Marke war neben der Designerin auch der Geschäftsleiter der Firma dabei. Er kam gerade aus China, wo er die Unternehmen besucht hatte, in denen die Kleider hergestellt wurden. Aus der Hafenstadt südlich von Schanghai wusste er wenig Gutes zu berichten. Die Landschaft hatte ihm gefallen, eine buchtenreiche Küste mit grünen Hügeln im Hinterland, die ihn an seine Heimat in Nordspanien erinnerte. Aber die Fabriken in den Tälern verpesteten die Luft, die Umweltverschmutzung war unerträglich, die Städte waren dreckig. Er sprach nicht gern über die Produktionsstätten in China.

Die Fotos der fröhlichen jungen Konsumenten, die für den Katalog der in China gefertigten T-Shirts gemacht worden waren, montierte die Werbeagentur nun zu den Autos und reichte den Entwurf bei der großen Firma ein. Alles schien seinen Lauf zu nehmen – bis zum Verbraucher, der in den Autohäusern einen Katalog mehr vorgefunden hätte, der mit den Gesichtern glücklicher Konsumenten dekoriert ist: Ein Mädchen liegt in der Sonne auf dem Boden und hört Musik. Daneben die Frontalansicht des Autos. Ein junger Kerl umarmt seine Freundin auf dem Sofa. Daneben die Seitenansicht des Autos. Eine Frau räkelt sich auf dem Balkon über den Dächern der Stadt. Daneben die Innenansicht des Autos.

Als „Image-Fotos“ bezeichnet man diese Art von Bildern, die nicht das Ding zeigen, um das es geht, sondern es in einen visuellen Kontext einbinden, ihm eine Atmosphäre geben. Das kann soweit gehen, dass vom Produkt selbst nichts mehr zu sehen ist. Die Bilder gleichen den „Second-Unit“-Einstellungen im Kino, so genannt nach dem zweiten Kamerateam, das sie außerhalb des Studios und abseits des Drehorts aufnimmt: menschenleere Panorama-Ansichten, die sich für einen Moment von der Handlung lösen. Die Image-Bilder lösen sich von dem Produkt, das sie bewerben. Sie umgeben das Ding, um das es geht, mit Menschen, mit einer Situation, mit Leben. Dieses Bild vom Leben wird sorgfältig geplant und arrangiert. Die Werbeagenturen haben lange Listen von Eigenschaften und Merkmalen entworfen, die das Bild erfüllen muss, um sich einem bestimmten Ausdruck anzunähern, der zur Zielgruppe und deren Wünschen und Gefühlen passt. Dass diese Bilder für die Werbung in den letzten Jahren immer wichtiger geworden waren, hatte verschiedene Gründe. Einer lag in der Bedeutung dessen, was man als „Image“ bezeichnet.

Von „Image-Bildern“ zu sprechen klingt wie die Verdoppelung eines Begriffs. Aber das Image ist kein Bild, sondern ein Bündel von Vorstellungen, Assoziationen, Zuordnungen. Es ist ein abstraktes Konstrukt, das auf halbem Weg vom Produkt zur Kaufentscheidung steht. Was das Image mit einem Bild verbindet, ist die Tatsache, dass es sich am ehesten durch Bilder herstellen lässt. In einem gewissen Sinn dekorieren Bilder die Waren, sie schmücken Produkte mit einer Welt. Das Dekor ist symbolisch und assoziativ. Bilder entwerfen zur Ware eine Welt, in der sich der Konsument so zu Hause fühlen soll, dass er die Ware erwirbt.

Nach einer Woche des Wartens meldete sich die Agentur bei der Fotografin. Es gab eine schlechte Nachricht. Die Marketing-Abteilung der Autofirma hatte den Entwurf abgelehnt. Alles musste komplett neu entworfen werden. Und zwar unter einer neuen Vorgabe: Die Broschüre sollte jetzt gänzlich ohne Image-Bilder auskommen. Alles sollte sachlicher werden. Das Produkt hatte im Vordergrund zu stehen, mit Zahlen, mit Informationen und mit Bildern der Autos, um die es hier geht. Was war passiert?

Von einer „Neuen Sachlichkeit“ ist in letzter Zeit wieder oft die Rede. Die wirtschaftliche Ausgangslage legt den Vergleich zwischen Sachlichkeit der Gegenwart und der „Neuen Sachlichkeit“ der 20er Jahre nahe. Auch damals entdeckte man die „Neue Sachlichkeit“ nach einer Zeit der Krise. 1923 brach die Wirtschaft in Deutschland unter der Inflation zusammen. 1929 erschütterte der Börsenkrach die Welt und löste eine globale Krise aus. Die Börsenkrise der letzten Jahrhundertwende hat die Hoffnung auf eine „New Economy“ beerdigt. Seitdem stabilisiert sich die Situation, ohne dass es in Deutschland wirklich zu einer wirtschaftlichen Erholung kommt. Doch auch wenn sich die Ursachen gleichen, so unterscheidet sich diese neue Tendenz zur Sachlichkeit ganz erheblich von der der 20er Jahre. Vor 80 Jahren konnte Sachlichkeit den Wert der „Neuheit“ für sich reklamieren, weil sie neben der ökonomischen auch eine ästhetische Seite hatte. In der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg waren Sachwerte die einzige Möglichkeit, den Wohlstand zu bewahren. Dass die Rückbesinnung auf die – wertbeständigen – Sachen ästhetisch aufgeladen werden konnte, verdankt sich besonderen Umständen. Kunst besaß in den 20er Jahren einen anderen kulturellen Stellenwert als heute.

Der Expressionismus der vorletzten Jahrhundertwende war eine Bewegung gewesen, die ausgehend von der Malerei auch Filme, die populäre Kultur und Gebrauchsgegenstände beeinflusst hatte. Die Sachlichkeit trat seine Nachfolge an. Der alltägliche Gebrauch und die Funktion eines Dings trat in den Vordergrund, während die symbolische Überfrachtung und der Hang zum Dekorativen, die noch den Expressionismus gekennzeichnet hatten, verschwand. Stilistische Markierungen wurden so weit vermieden, dass daraus schon wieder ein Stil wurde. Diesen sachlichen Stil findet man bei Gebrauchsgegenständen vom Werkbund bis zum Bauhaus ebenso wie in den Bildern von Otto Dix bis Oskar Schlemmer. Schlemmer strebte einen Malstil an, „der jenseits von Mode und ästhetischer Form eine Notwendigkeit bedeutet“.

Das wird sich so in der nächsten Zeit nicht wiederholen. Funktion und Ästhetik haben heute einen anderen, marginaleren Stellenwert. Die „Wurzeln“ der Sachen werden anderswo gesucht. An die Stelle von Ästhetik tritt Kommunikation, an die der Funktion der Erfolg. Der Wert einer Sache bemisst sich also nicht mehr daran, wie man sie benutzen kann, sondern an ihrer Beliebtheit. Eine Sache ist erfolgreich, wenn es gelingt, „sie zu kommunizieren".

Nicht nur die Dinge, auch die Menschen haben sich verändert, und diese Veränderung hat wiederum mit der alten neuen Sachlichkeit zu tun. Sie betraf nicht nur die Sachen, sondern auch das, was man seither „die Gesellschaft“ nennt. Der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen hat die Entwicklung in seinem neuesten Buch „Gegenwartsvergessenheit“ beschrieben: Damals begann man, das Soziale mathematisch-statistischen Methoden zu unterwerfen, um es fassbar zu machen. Es wurden Techniken zur Befragung entwickelt, Meinungen erforscht und Wünsche erfragt. Der Einzelne erscheint nun als Bündel von Ansichten, sein Verhalten erscheint als Reaktion auf bestimmte äußere Reize. Der Mensch wurde als „Konsument“ wiedergeboren. Konsumenten formen Massen, sie bilden Meinungen und werden von Medien beschallt und bebildert. Der Begriff einer Gesellschaft, die sich einst als „bessere“ noch exklusiv gab, wird aus dem Geist der Statistik neu geboren.

Zur Sachlichkeit zurückzukehren, bedeutet heute, der symbolischen Überbewertung und der Macht der Marken Einhalt zu gebieten. „No Logo!“ lautete vor vier Jahren der Aufruf der Kapitalismuskritikerin Naomi Klein. Tatsächlich schwindet der Wert von Marken an den verschiedensten Fronten. Während Ikea in den neuen Ländern der europäischen Union noch den Status des neuen Reichtums verkörpert, gilt er in Deutschland als Möbeldiscounter. Hier zu Lande erwirtschaftet der Konzern 20 Prozent seines gesamten Umsatzes, das lässt sich kaum mehr ausbauen. Obwohl ein Bewohner des tschechischen Brünn weitaus weniger verdient als ein deutscher Durchschnittskonsument, bezahlt er bei Ikea viel mehr für seine Möbel. Das Standardregal Billy wird in Deutschland 30 Prozent billiger angeboten als 500 Kilometer weiter östlich, und damit wahrscheinlich näher am seinem Entstehungsort. Während die symbolische Veredelung des Dings durch die Marke bei uns schon nachlässt, erreicht sie in der Tschechischen Republik, Polen Ungarn und der Slowakei erst ihren Höhepunkt. Mit einem Billy-Regal erwirbt man sich im neuen Europa noch den Luxus Westeuropas, während der Erfolg von Ikea bei uns eher von der schwindenden Bindung der Konsumenten an andere traditionelle Marken zeugt.

Der Versuch, Geschmacksurteile bestimmten Gesellschaftsklassen zuzuordnen, wie es Pierre Bourdieu in seiner einflussreichen Untersuchung „Die feinen Unterschiede“ noch in den 80er Jahren gelang, funktioniert nicht mehr. Die Konsumenten kombinieren Prada mit H&M, schauen nach einem Einkauf bei Aldi noch im KaDeWe vorbei.

Auch die Hersteller und Händler passen sich den neuen Kosumformen an. Sie vollziehen die Beweglichkeit ihrer Kunden nach: Lagerfeld entwirft für H&M, Apple stößt auf den Markt der Billigcomputer vor. Große Marken gründen kleine Sublabels, um der Starre festgefügter Kommunikationsmuster zu entkommen. Die Fotografin, deren Bilder nicht gedruckt wurden, begegnete jüngst einem Model, das den Wegen der Basarwirtschaft in umgekehrter Richtung gefolgt war. Sie hatte einen Monat in China gearbeitet. Dort sind die Gesichter von Langnasen gefragt. Denn die Arbeiter im Reich der Mitte lieben die luxuriöse Welt des Westens. Noch.

Die Wendung zur Sache geht gern mit dem Argument des Notwendigen einher. Das gilt nicht nur für künstlerische Belange, sondern ebenso im sozialen Gefüge. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu stellt in „Die feinen Unterschiede“ dar, wie sich die unteren Gesellschaftsklassen in die „Entscheidung für das Notwendige“ fügen, also in das, was sie sich leisten können. Die ökonomische Notlage wird dabei in eine moralische Tugend umgemünzt. Das Notwendige gilt als die bessere Alternative zum Überfluss und zum Überflüssigen. Sachlichkeit wird zum Lebensstil und zur Marketingstrategie.

Es gibt einen neuen Typus von Computerläden, deren Verkaufsräume an die Einrichtung von Bezirksämtern erinnern. Vor dem Tresen wartet eine Schlange von Käufern. Werbung sucht man vergeblich, von DIN A4-Zetteln abgesehen, die mit Klebestreifen an der nackten Wand befestigt sind. Zu lesen ist eine Liste von Kennziffern und Beträgen. Sie müssen weder groß geschrieben noch bunt gedruckt werden. Denn dass die Preise so billig wie möglich sind, macht die spartanische Einrichtung klar. Hier findet die Basarwirtschaft zu sich selbst zurück. Die Preise der Prozessoren und Bauelemente nähern sich wieder dem Importwert an. Jegliches Ornament von Kommunikation ist gestrichen. Niemand kann je auf den Gedanken verfallen, an dieser Stelle nach einer Ästhetik der Sachlichkeit zu suchen. Auch in der Werbung sucht man sie vergebens.

Die großen Marken, wie der erwähnte Autohersteller, kämpfen verbissen um große Marktanteile. Dass sie die am ehesten im Durchschnitt, im Mittelmaß suchen, ist nicht neu. Neu ist, wie schnell auf die Umfragen reagiert wird. Radio- und Fernsehsender betrachten eine Sendung nur dann noch als gelungen, wenn ihr Erfolg von der Befragung bestätigt wird. Um welche Sache, welches Thema oder welchen Inhalt es dabei geht, bleibt sich gleich. Schon wurden erste Klagen der Werbetreibenden laut, das Niveau der Programme sei mittlerweile so heruntergekommen, dass man für anspruchsvolle Produkte im Fernsehen keine Werbung mehr schalten könne.

Auch das Logo der kommenden Fußballweltmeisterschaft ist ein gutes Beispiel für „gelungene Kommunikation“ mit dem Konsumenten: grinsende Fratzen, deren fröhliche Dummheit aus ihren Gesichtern strahlt, daneben ein als Sternbild geformter Fußball, der allen gestalterischen Prinzipien spottet. Weiter kann man sich von der ästhetischen Dimension der Sachlichkeit nicht entfernen, aber die Mehrheit der Befragten hat es so gewollt.

Stefan Heidenreich

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false