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Kultur: Das Papier einer deutschen Schokolade am Straßenrand

Ostpreußen: Das sind die Russen, die in Kaliningrad mit Suppenlöffeln nach Relikten von Königsberg graben. Das sind die Initiatoren der polnischen Kulturgemeinschaft "Borussia", die seit elf Jahren von Olsztyn (Allenstein) aus nach der "Metaphysik des Ortes, an dem wir leben", sucht.

Ostpreußen: Das sind die Russen, die in Kaliningrad mit Suppenlöffeln nach Relikten von Königsberg graben. Das sind die Initiatoren der polnischen Kulturgemeinschaft "Borussia", die seit elf Jahren von Olsztyn (Allenstein) aus nach der "Metaphysik des Ortes, an dem wir leben", sucht. Und das 1995 gegründete Kulturzentrum im Thomas-Mann-Haus im litauischen Nida (Nidden), das in kürzester Zeit zum meistbesuchten Museum Litauens wurde.

Oder es sind Männer wie Winfried Lipscher, der in Ostpreußen geborene Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft in Warschau. "Ich bin ein alter Ostpreuße", sagt er, "ich habe meine Heimat verloren. Ich bin ein neuer Ostpreuße, ich habe sie geistig und intellektuell wiedergewonnen." Fünf Jahrzehnte nach ihrer Ansiedlung in Ostpreußen entwickeln Polen, Litauer und Russen eine "ostpreußische" Identität. Sie speist sich aus der Geschichte und der Physis der Landschaft, die schon die alten Ostpreußen formte. Die zwischen drei Staaten geteilte Region habe nun als "Eurokulturregion" eine Chance, Heimat für alle zu werden, die dort herkommen und die dort leben, sagt Lipscher.

Was Ostpreußen ist, bestimmen nicht mehr allein Landsmannschaften und die Busreisenden, die in der alten Heimat ihre verlorenen Güter suchen. Amtliche Definitionsmacht über alle ehemals deutschen Gebiete in Ost-, Mittel- und Südeuropa übt seit Kurzem das Deutsche Kulturforum östliches Europa aus. Das im Sommer 2001 in Potsdam eröffnete Institut wird nach dem Bundesvertriebenengesetz gefördert. Staatskulturminister Naumann verteilte Gelder neu, die den Kulturzirkeln der Vertriebenenverbände zugeflossen waren. Unter der rot-grünen Bundesregierung werden Projekte gefördert, bei denen es darum geht, dass Deutsche und die heutigen Bewohner einen gleichberechtigten Dialog über das historische Erbe und die gegenwärtige Kultur in den Regionen führen.

Der Beitrag des Potsdamer Forums zum Preußenjahr ist es, an "Preußens vergessene Hälfte" zu erinnern. Untertitel der Veranstaltungsreihe Mitte Oktober: "Renaissance einer Kulturregion". Botschaftsrat Lipscher und der polnische, 1952 in Barczewo (Wartenburg) geborene Schriftsteller und Übersetzer Kazimierz Brakoniecki stellten die Anthologie "Meiner Heimat Gesicht. Ostpreußen im Spiegel der Literatur" vor. Sie erscheint in den vier Sprachen der Region, vereint Texte "alter Ostpreußen" wie Ernst Wiechert und Siegfried Lenz und "neuer Ostpreußen" wie Erwin Kruk, Oleg Gluschkin oder Kristionas Donelaitis: eine Art literarisches Manifest des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Eines Tages, hofft man in Potsdam, werde niemand mehr nach der Nationalität der Dichter fragen.

Arnulf Baring ist kein Ostpreuße. Aber der Historiker hat sich bei vielen Reisen in die Region ein Bild gemacht. "Besuche in unseren früheren Ostgebieten", sagt Baring, "sind bewusste Trauerarbeit. Die Vergegenwärtigung des Verlustes, der Schmerz über schöne Landschaften, die einst deutsch waren - auch die Einsicht, wie viel vor und nach dem Kriegsende 1945 in Flammen aufgegangen, für immer verloren ist - macht solche Reisen seelisch anstrengend." In der Öffentlichkeit allerdings gerate der Verlust der Ostgebiete aus falsch verstandener politischer Korrektheit in Vergesssenheit. Dabei erkennt Baring an, dass "viel kulturell Wertvolles erhalten geblieben, wiederhergestellt und fortgesetzt ist." Nur im russisch gewordenen Ostpreußen sei - außerhalb von Kaliningrad - die "Kulturvernichtung" total.

Auch solche Stimmen werden in Potsdam gehört, allerdings sind nicht alle so willkommen wie die des angesehenen konservativen Historikers. Ein Mann aus dem Publikum bekennt sich als "Reichsdeutscher". Die Restitution der deutschen Güter sei der Schlüssel zur Rettung der Wirtschafts- und Kulturregion Ostpreußen. Da schütteln die modernen neuen Ostpreußen ihre Köpfe. Doch das Bedürfnis, sich zu erinnern, wie Ostpreußen einmal war, nimmt man im Kulturforum durchaus ernst. Eine Ausstellung zeigt - bis 1. November in den Bahnhofspassagen Potsdam - Fotografien von früher, das "Atlantis des Nordens". Der Titel wurde 1993 in Polen erdacht, die zwischen 1846 und 1944 entstandenen Fotos vor acht Jahren zuerst in Olsztyn gezeigt.

Die Direktorin des Kulturforums weiß: Ostpreußen ist immer noch ein Reizwort. Hanna Nogossek fürchtet sich nicht vor Ewiggestrigen. Damit die ihren Anspruch nicht geltend machen, sollten sich vernünftige Menschen mit dem Thema beschäftigen. Unter polnischen Historikern sei das Interesse größer als in Deutschland. Aber sie finden nun, gut zehn Jahre nach der Öffnung Polens, Litauens und Russlands, für die Erforschung dieser Geschichte Dialogpartner. Robert Traba, Vorsitzender der polnischen Kulturgemeinschaft "Borussia", beklagt freilich, dass es immer noch nur ein Dialog der Eliten sei, dass trilaterale Kommunikation im ehemaligen Ostpreußen kaum stattfinde.

Ein kleines Kommunikationswunder dagegen ist in Berlin-Hohenschönhausen zu beobachten, wo dieser Tage die "Kunst- und Kulturtage im Rahmen der Städtepartnerschaft Kaliningrad und Berlin-Lichtenberg" beginnen. "Preußische Elegien zwischen Tilsit - Königsberg/Kaliningrad - Berlin" singt der Untertitel. So brisant das Thema in einer PDS-Hochburg, wo die Bevölkerung eher der Deutsch-sowjetischen Freundschaft als dem Ostpreußentum nahesteht, so ruhig geht Organisatorin Brigitte Graf die Sache an. In der kommunalen Plattenbaubezirks-Galerie "studio im hochhaus" eröffnete sie zum Auftakt eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Kaliningrad.

Die Künstler graben nicht mit Suppenlöffeln nach dem alten Königsberg, sind ihm aber dicht auf der Spur. Valeri Morosko, ein 1964 geborener Kaliningrader, spielt mit einem fiktiven Herbarium, wie man es auf einem vergessenen deutschen Dachboden hätte finden können. Er blättert einen Prachtband der ostpreußischen Flora auf, gemalt mit akademischer Ironie. Auch Lev Scherstjanoi, Mitte der 90er Jahre aus Kasachstan vertrieben und in Kaliningrad gestrandet, botanisiert in seiner neuen Heimat. Er druckt und klebt auf Papier, was er am Straßenrand findet: Gräser, Blumen und Deutsches - ein Bitburger-Bier-Etikett, die Verpackung eines Schokoriegels. Nadeshda Matwejewa, Wahl-Kaliningraderin seit 1982, malt Aquarelle von der Landschaft vor der Stadt, und von der Kurischen Nehrung - "Farbe und Rhythmus unserer Heimat, des ehemaligen Ostpreußens", wie die Leiterin der Kaliningrader staatlichen Galerie sagt. Vor dieser Kulisse spielen bis zum 9. Dezember die meisten Veranstaltungen der Kulturtage, so darunter eine Reihe von Salonabenden und Lesungen zu Königsberg / Kaliningrad.

Was Ostpreußen heute ist, mit seinen Naturschönheiten und Brüchen und den Menschen, die dort leben, zeigt "Kurische Nehrung" von Volker Koepp, für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich erfolgreich: Seit Anfang August sahen ihn schon 16 000 Zuschauer. Ja, sie sei gebürtige Ostpreußin, sagt eine ältere Dame nach der Vorstellung in den Hackeschen Höfen. Heute verbinde sie "interesseloses Wohlgefallen" mit diesem sehr schönen, sehr einsamen Land.

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