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Kultur: Das Salz von Aden

„Der Tag vor dem Abend“: Zum 80. Geburtstag des Literaturwissenschaftlers Harald Hartung.

Die Tropenluft von Aden, Rimbauds letztem Wohnort, lastete drückend auf den Teilnehmern der ersten arabisch-deutschen Lyrikkonferenz im September 2000. Nach der Eröffnung in Jemens Hauptstadt Sana’a unter dem Motto „Unser Kommen ist Gedicht, und die Liebe im Jemen ist ein Fest“ war der Tross aus Autoren und Journalisten in den ehemals sozialistischen Südteil des Landes weitergezogen. In der Küstenstadt Aden, die als „Grab des weißen Mannes“ gilt, drohte die Stimmung zu kippen; die südjemenitischen Lyriker fühlten sich übergangen, sie wollten nicht auftreten. Da zauberte Harald Hartung, dessen Koffer voller Gedichte in Sana’a geblieben war, ein Impromptu auf den Hotelbriefblock: „Meine Gedichte schlafen im Koffer, der nicht fliegen will / Ich öffne die Augen: Jetzt steht vor dem Fenster/ das Bild einer Bucht / Warmes Wasser ist zu schmecken / Das Salz von Aden auf diesem Blatt.“

Ein anerkennendes Raunen ging durch den Saal, Beifall brandete auf, der Abend war gerettet. Das hatte Hartung cum grano salis geschafft, mit jenem berühmten Salzkorn, das schon Plinius der Ältere als Remedur empfahl. Eine Prise Salz, eine leise, doch stets menschenfreundliche Skepsis würzt auch sein aktuelles Buch „Der Tag vor dem Abend“. Damals in Sana’a, bei der nächtlichen Fahrt zum Hotel mit Polizeieskorte, habe er sich gefühlt „wie in einem James-Bond-Film, der im Orient spielt“. 14 Jahre, von 1998 bis heute, hält der emeritierte Professor für Literaturwissenschaft an der TU Berlin, der vielfach ausgezeichnete Lyriker, Essayist und Kritiker in Tagesnotizen, Reise- und Lektüreeindrücken sowie ins Aphoristische mündenden Aperçus fest: „Der melancholische Reiz von Kalenderdaten: dass überhaupt etwas war und nicht nichts.“ Der Aphorismus an sich ist ihm aber ein Graus: „Wo die Aphorismen sich häufen, sinkt die Kraft der Beobachtung.“

Harald Hartung wurde am 29. Oktober 1932 als Sohn eines Bergmanns im westfälischen Herne geboren. Seine Kindheit verbrachte er zeitweise im deutsch besetzten Prag. Diesen Spuren geht er intensiv nach, so wie er sich über Wiener Merkwürdigkeiten oder die Namensgebung „Ristorante alla Speranza“ (Restaurant zur Hoffnung) im geliebten, oft besuchten Venedig freuen kann. Ein winziges Quäntchen Hoffnung, denn ab 2002 überschattet eine familiäre Tragödie übermächtig die Zeilen. „Nimm das Telefon nicht ab“, zitiert Hartung den Lyriker Ted Hughes, „der Tod erfand das Telefon“. Diese Zeile fiel ihm ein, als er einen Nachruf auf Hughes schreiben musste, wie immer ein Auftrag per Telefon.

Es ist ein Hochgenuss, Hartungs pointierte Beobachtungen über den Literaturbetrieb zu lesen, mit ihm an den von ihm Gelobten und Gekränkten vorbeizuflanieren, wobei Letztere selbstredend anonym bleiben. Mutmaßlich am Rüdesheimer Platz feiert Harald Hartung morgen seinen 80. Geburtstag. Katrin Hillgruber

Harald Hartung: Der Tag vor dem Abend. Aufzeichnungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2012.

160 Seiten, 19,90 €.

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