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Kultur: Das Selbstbild ist perdu

Leere Bilder, weiße Leinwände und ein Paraffinhaus für den Kopf, zum einen die Projektionsfläche, zum anderen der Hallraum für die Imagination: Zwei Beispiele für das zeitgenössische Portrait? Daß die Ausstellung "Persönliche Ansichten - Flüchtige Portraits" der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin mit dem Begriff des Portraits im herkömmlichen Sinne wenig zu tun hat, mag an der These liegen, das Portrait habe sich in seiner Entwicklung im 20.

Leere Bilder, weiße Leinwände und ein Paraffinhaus für den Kopf, zum einen die Projektionsfläche, zum anderen der Hallraum für die Imagination: Zwei Beispiele für das zeitgenössische Portrait? Daß die Ausstellung "Persönliche Ansichten - Flüchtige Portraits" der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin mit dem Begriff des Portraits im herkömmlichen Sinne wenig zu tun hat, mag an der These liegen, das Portrait habe sich in seiner Entwicklung im 20.Jahrhundert als zur "Selbstidentifikation" nicht geeignet erwiesen.

Und wirklich, das im Bildnis gefeierte Subjekt hat inzwischen ausgedient.Die Kunst der 80er Jahre, prototypisch etwa bei Cindy Sherman, transportierte die Erkenntnis, daß das mediale Bild eigentlich nur ein konstruiertes Image erzeugt, dessen Vertäuung mit einem authentischen Selbst gekappt ist.Die 90er Jahre, wie man sie in der Ausstellung präsentiert, fragen eher nach der flüchtigen Wahrnehmung des Subjekts.Auch das Portrait gerät deshalb als laufendes Bild in Bewegung - oder zumindest die Vorstellung im Kopf des Betrachters.Plötzlich gibt es wieder eine Tiefendimension des Portraits, diese Dimension aber ist die der Zeit.Ihr Medium sind Video und Computer.Die statische Zuschreibung von Identität durch das Bildnis in der Malerei und Fotografie wird durch die avancierte Technik der Echtzeitmedien überholt.

So wird es möglich, das Leben quasi 1:1 abzubilden.100 Videos von insgesamt neun Stunden Dauer bietet der Kanadier Steve Reinke dazu auf.Die Filmbilder verdichten sich nach und nach zu einem autobiographischen Kaleidoskop, zu einem Kosmos eigener Art, der Welt und Selbstsicht kombiniert.Wie im richtigen Leben bleibt die Wahrnehmung auf einen flüchtigen Eindruck beschränkt, und es scheint so, als wäre die neueste Kunst bescheiden geworden.

Die alte Frage nach Authentizität beantwortet Tracy Moffatt deshalb buchstäblich mit einer Enttäuschung: Ihr halbstündiges "Portrait" von australischen Surfern beim An- und Ausziehen ist mit versteckter Kamera aufgenommen, die Bewegungen also durch die Anwesenheit der Künstlerin nicht "verfälscht".Und doch gewinnt man den Eindruck, diese jungen Männer würden den festgelegten Regeln eines Rituals gehorchen, der den Videobildern unterlegte Männergesang suggeriert eine Art von Stammeskultur.Den umgekehrten Weg, nämlich die Anwesenheit des Betrachters bis zur Penetranz zu steigern, hat die Dänin Gitte Villesen gewählt.Auf einem Rummelplatz ist sie mit geschulterter Kamera einem jungen Mann nicht mehr von der Seite gewichen.Dieser zufällige Passant wird zum Akteur, der sich ganz preisgibt und hilflose Annäherungsversuche unternimmt - bis eine Grenze überschritten ist und das Spiel vor der Kamera in Aggression umschlägt.Auch Rineke Dijkstra läßt ihre "Modelle" agieren.In einer Techno-Disko stellt sie Teenager vor eine weiße Wand und läßt die Kamera laufen.Obwohl es keine Regieanweisungen gibt, fangen die meisten an zu tanzen.Zum Schlag der Technobeats versuchen sich die spätpubertären Mädchen und Jungen in Selbstdarstellung, die mitunter noch nicht recht gelingen will.Das Suchen nach dem Ausdruck wird zum eigentlichen Bild der Person.

Wie der Ausdruck sich verselbständigen kann, daß er wie früher das Gesicht für eine Identität einstehen kann, zeigt Stefan Zeyen.Sechs Kölner Kulturschaffende sprechen, angetan mit Datenhandschuhen, über die Kunst.Ihre Gestenrepertoire wird im Computer aufgezeichnet und als dreidimensionale Skulptur frei im virtuellen Raum des Monitors sich drehend zum Portrait.

Man erfährt so, daß das Abbild immer weniger zur Identifikation taugt; zu beliebig, zu ungenau, zu anfällig sind die Augen für Täuschung und Mimikry.Heute können jenseits des Bildes mit anderen Medien und anderer Technik zunehmend komplexer aufgelöste "Portraits" entstehen.Der genetische Fingerabdruck, der Mensch als Genkarte also, läßt eine eindeutige Zuordnung zu.Was dieses für den Computer adressierbare Individuum aber für ein Mensch sein wird, das zu ergründen wird dennoch Aufgabe der Kunst bleiben.Wie sie sich dabei an neue Ausdrucksweisen herantastet, zeigt diese Ausstellung: auf der Höhe der Zeit.

Neue Gesellschaft für bildende Kunst

Berlin, Oranienstr.25, und shift e.V., Friedrichstraße 122/123, bis 10.Januar.Katalog 22 Mark, im Buchhandel 28 Mark.

RONALD BERG

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