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Kultur: Das ungeteilte Gedenken

Vor dem „Tag der Heimat“: zur Debatte um das geplante Vertriebenen-Zentrum

Unendliches Leid war mit der Massenflucht vor der Roten Armee und der anschließenden Vertreibung der Deutschen aus dem Osten des Landes verknüpft. Mord und Vergewaltigung, Tod durch Tieffliegerbeschuß, Erschöpfung, Erfrieren, Ertrinken; übrigens auch Verschleppung in die Sowjetunion. Mehr als zwei Millionen Deutsche hat es das Leben gekostet, zahlreiche Kinder wurden auf immer von ihren Eltern getrennt. Zum Verlust der Habe, der Heimat und vertrauter Lebenszusammenhänge kamen Hunger, Elend, Schikanen, Demütigung, alle Arten von Verzweiflung. Jeder sechste Deutsche war von der Katastrophe (um ein neutrales Wort dafür zu gebrauchen) betroffen.

Grund genug also, sollte man meinen, in einer Zeit, da man weit über die Gefallenen hinaus intensiv der Opfer von Geschichte gedenkt, auch dieser Katastrophe wieder die Aufmerksamkeit zuzuwenden, die sie verdient. Sie ist ihr lange versagt geblieben.

Denn die alte Bundesrepublik kannte in Hinsicht auf den Krieg, grob gesagt, zwei gegenläufige Verdrängungswellen. Bis in die 60er Jahre hinein standen die eigenen Verluste und Leiden, auch die der deutschen Ostgebiete und der Ostdeutschen selbst, im allgemeinen Bewußtsein obenan. Je mehr man sich aber der großen Verbrechen, zumal des Judenmords, und der breiten Beteiligung daran bewußt wurde, um so schwieriger wurde es, von den eigenen Leiden öffentlich viel herzumachen. Trotz aller Proteste der Verbände von Heimatvertriebenen: Es bildete sich eine Art Tabu. Als Günter Grass sich 2002 der Sache annahm, meinte er, sich entschuldigen zu müssen: Man müsse das Thema den „Rechtsgestrickten“ wegnehmen. Und seine Novelle „Im Krebsgang“ drehte sich ja auch nur um die Sache herum.

Noch in der laufenden Debatte spürt man die Nachwirkung von Jahrzehnten der Verdrängung. Dabei bestünde gerade heute, gerade für die, die Krieg und Nachkrieg noch erlebt haben, aller Anlaß, nicht nur über Untaten und Unterlassungen, sondern über das Leben insgesamt und das Geschick der damaligen Deutschen nachzudenken. Über all das, was gleichsam deren Zeitgenossenschaft ausfüllte, belastete, zum Teil gar makaber machte – und festzuhalten, was noch zu erinnern ist. Und vieles geschieht ja zunehmend in Kunst und Reportage, in Fernsehdokumentationen und anderem.

Indes, braucht es dafür auch ein Zentrum, ein Mahnmal? Am Ende in Berlin? Eigentlich schon, finde ich, denn davon könnten wesentliche Anstöße für das Gedenken ausgehen, dafür, einen bedeutenden Teil deutscher Geschichte und Kultur im allgemeinen Bewußtsein wieder stärker präsent zu machen. Und es könnte ein Ort gemeinsamer Trauer sein.

Doch hat die Sache ja einen Haken. Man kann das unermeßliche menschliche Leid von Flucht und Vertreibung nicht isoliert darstellen. Die Ursachen drängen sich unabweisbar mit ins Bild, Russen, Polen, Tschechen also. Zu den Modalitäten der Räumung gehört vielerlei Unrecht bis hin zu den Beneš-Dekreten. Dabei aber kann man erst recht nicht stehen bleiben. Vielmehr verlangt die deutsche Vorgeschichte der Vertreibungen eine angemessene Darstellung: Der so freventlich eröffnete und weithin verbrecherisch geführte Krieg ermöglichte überhaupt erst alles, was geschah. Dieser Vorgeschichte kann man nicht entgehen, auch nicht dadurch, daß man das Phänomen der Vertreibung gleichsam verallgemeinert und andere Deportationen miteinbezieht.

Durch die einzigartigen deutschen Verbrechen rückt alle Erinnerung an NS-Zeit und Krieg, auch die an die Leiden der Deutschen, unter ein unheilvolles Vorzeichen. Auch die Darstellung der Vertreibung läßt sich davon nicht freimachen. Nicht daß die Vertriebenen sich mehr schuldig gemacht hätten als andere Deutsche. Davon kann keine Rede sein. Aber es gilt von ihnen eben, was von allen anderen auch gilt: Was sie im Krieg (und davor) in ihren Lebenskreisen getan, gedacht, versucht, unterlassen oder auch verhindert, was sie erlebt und was sie erlitten haben, kann immer nur als die eine Seite eines Geschehens erscheinen, in das sie zugleich als Teil der Gesamtheit der Deutschen eingespannt waren. Sie waren, für sich genommen, zumeist keineswegs Schweine, Schurken oder Mörder. Im Gegenteil, sie mögen weithin versucht haben, in ihrem Bereich Anstand walten zu lassen, nach bestem Wissen und Gewissen, wenn auch mit Einschränkungen. Sie mögen ihrerseits unter dem Regime gelitten haben, auch resistent gewesen sein. Aber das Ganze des von den Deutschen zu verantwortenden Geschehens läßt sich aus deren Erinnerung nicht mehr wegdenken.

Weil es so schwierig ist, das eine und das andere zusammenzudenken, liegt es so nahe, dieses oder jenes zu verdrängen, zu verkleinern oder zu relativieren und sich mit Ausflüchten oder Aufrechnungen zu behelfen. Dabei gälte es, sich für eine ungeheure Komplexität und Ambivalenz zu öffnen und ihr standzuhalten.

Ein Zentrum, das dem Gedenken an Flucht und Vertreibung aus dem deutschen Osten dient, muß also etwas unglaublich Schwieriges leisten. Es muß deutsche Untäterschaft und deutsches Leiden nebeneinanderstellen und in Beziehung zueinander setzen. Es muß das schlimme, in vielen Fällen durchaus tragische Geschick der Ostdeutschen auf dem Hintergrund der großen Verbrechen herausarbeiten.

Kurz: Das geplante Zentrum muß uns mit weit mehr konfrontieren als nur mit der Vertreibung von Deutschen und anderen. Ich halte seine Gründung für legitim und finde, daß es nach Berlin gehört. Es soll die deutsche Geschichte jener Zeit in den Mittelpunkt stellen, dorthin, wo sie ja leider hingehört, für alle, nicht nur für uns. Daß das geplante Zentrum im Ausland, besonders in Polen, Besorgnis hervorruft, ist verständlich. Man sollte das nicht unterschätzen. Die starke Fixierung des deutschen Gedenkens auf den Mord an den Juden läßt leicht übersehen, in welchem Ausmaß gerade auch in Polen von uns gemordet, schikaniert und umgesiedelt wurde. Ein Sklavenvolk ohne jede Elite, ohne Bildungsmöglichkeiten sollte dort übrigbleiben. Nebenbei: Auch die polnischen Opfer verdienten ein Denkmal – wie Millionen russischer Kriegsgefangener, die umkamen oder umgebracht wurden.

Es wird darauf ankommen zu beweisen, daß solche Sorgen unbegründet sind. Aber ganz abgesehen davon: Ich sehe noch nicht, wie man die angedeuteten Probleme lösen will (übrigens auch nicht, daß auch nur einer der Politiker, die sich dazu geäußert haben, um diese Probleme wüßten). Vielleicht braucht es dazu noch einige Zeit, vielleicht könnten dann sogar segensreiche Wirkungen von einem solchen Zentrum ausgehen.

Denn wenn man die Geschicke der vertriebenen Deutschen in ihren Zusammenhängen ehrlich, genau und selbstkritisch zur Geltung bringt, müßte 60 Jahre nach dem Krieg eine Basis erarbeitet werden können, auf der eine zusätzliche Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Polen gestiftet werden kann. Und dies im Gedenken an vergangenes Leid wie im gemeinsamen Dienst an dem Land,das die Heimat der einen war und jetzt die der anderen ist. Vielleicht kann sich dann sogar bei den Tschechen etwas bewegen.

Der Althistoriker Christian Meier war bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt veröffentlichte er „Von Athen bis Auschwitz“ im Münchener Verlag C.H. Beck (2002).

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