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Kultur: Das unvollendete Genie

So haben wir Leonardo da Vinci noch nie gesehen: ein neuer Bildband als Opus maximum

Unter den Heroen der Kunstgeschichte ist Leonardo da Vinci vielleicht der größte. Der Begriff „Universalgenie“ könnte eigens für ihn erfunden worden sein. Denn Leonardo hat nicht nur die Mona Lisa und das Abendmahl gemalt, die beide in ihrer rätselhaften Schönheit als Inbegriff der abendländischen Malerei gelten; er hat auch Flugapparate und Kriegsmaschinen konstruiert, er war Anatom, Hirnforscher, Stadtplaner, Dichter, Astronom – und noch manches andere. Die Ränder seiner Zeichnungen, in denen er Wolkenformationen, geometrische Kurven oder den Fall einer Locke skizzierte, füllte er mit Notizen in einer schwer entzifferbaren Spiegelschrift. Leonardo genügte es nicht, die Welt abzubilden. Er wollte sie auch verstehen. Leonardos Malerei lässt „ein Maß an Verstand erkennen, das bisher unerreicht geblieben ist“, seine Zeichnungen vermitteln den Eindruck, „keinerlei Hindernisse zu kennen“, befand André Malroux.

Genies werden von den Nachgeborenen gerne vereinnahmt, besonders wenn sie so vielseitig veranlagt waren wie dieser Künstler, der 1452 in Vinci, einem Flecken bei Florenz, geboren wurde und 1519 in Amboise an der Loire starb. Leonardo, so der Mythos, ist seiner Zeit so weit voraus gewesen, dass er erst heute begriffen werden kann. Wir stellen ihn uns als weisen Greis vor, der auf dem berühmten Turiner Selbstporträt tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Einstein hat. Aus der Rötelzeichnung, die um 1510 entstand, blickt uns ein bärtiger, langhaariger Mann entgegen, der zwar nicht seine Zunge rausstreckt, aber seine Mundwinkel skeptisch nach unten biegt. Sonderlich zufrieden sieht er nicht aus. Als das Bild entstand – bis heute ist unklar, ob es sich wirklich um ein Selbstporträt handelt – war Leonardo um die sechzig. Gut möglich, dass er kurz vor dem Tod mit einer gewissen Melancholie auf sein Leben zurückschaute.

Denn Leonardo war auch ein Genie des Scheiterns. Er hat nur 17 Gemälde hinterlassen, von denen drei unvollendet blieben. Das ist bloß ein Bruchteil des Oeuvres eines Raffael, Tizian oder des verhassten Rivalen Michelangelo. Leonardo selber war nicht sonderlich beeindruckt von seiner Kunst. Von seinen Werken hielt er nur drei für bedeutend: ein für den Mailänder Fürsten Fransesco Sforza geplantes Reiterstandbild, die „Angharischlacht“ und das Abendmahl. Das Reiterdenkmal, an dem Leonardo am Ende des 15. Jahrhunderts arbeitete, kam nie über das Entwurfsstadium hinaus. Weil das Bronzepferd die enorme Höhe von sieben Metern bekommen sollte, hatte die vorgesehene Gussgrube den Grundwasserspiegel erreicht. Und die Angharischlacht, ein monumentales Wandgemälde für den Palazzo Vecchio in Florenz, das Leonardo im Frühjahr 1503 begann, ließ er 1506 unvollendet zurück, nachdem er sich mit den Auftraggebern überworfen hatte. Dafür leuchtet das jüngst restaurierte Abendmahl, das Leonardo um 1497 an einer Refektoriumswand des Mailänder Klosters Santa Maria della Grazie vollendete, umso strahlender.

Von der Größe und der Schönheit der Kunst des Renaissance-Meisters zeugt jetzt ein monumentaler Bildband. Das Prachtbuch aus dem Kölner Taschen-Verlag wiegt elf Kilo und ist in ausgeklapptem Zustand 60 Zentimeter breit (Frank Zöllner: Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, 696 Seiten, 150 Euro). Ein herkömmlicher Coffeetable reicht nicht aus, um dieses Buch angemessen zu studieren, man braucht schon einen stabilen Schreibtisch. Es gibt hier kluge Essays des Leipziger Kunstgeschichtsprofessors Frank Zöllner zu Leonardos Leben und Werk, zu seinen Vorbildern und zu seiner Wirkungsgeschichte; vor allem aber sehen wir: Bilder. Rund 850 Fotografien zeigen alle Gemälde und Zeichnungen Leonardos und viele Skizzen aus seinen Notizbüchern und wissenschaftlichen Manuskripten.

So nah wie hier kommt man seiner Kunst sonst nur im Museum. Der Mona Lisa, die im Louvre hinter Panzerglas wie weggesperrt wirkt, meint man über die blasse Haut streicheln zu können, so nah rücken riesenhafte Ausschnittvergrößerungen die faltige gebrochene Oberfläche der Ölmalerei. Man ist hingerissen vom exakten Schwung der Federzeichnungen und der Detailversessenheit der anatomischen Studien. Man kann sich über ein Spätwerk wie den „Johannes“ (1513-16) mit seinem steil nach oben gerichteten Zeigefinger beugen und die Feinheit des sfumatos bewundern, jener Technik, bei der die übereinandergelegten Malschichten die Konturen sanft verschwimmen lassen.

Es war Leonardos Unzufriedenheit mit den Möglichkeiten der Kunst und vor allem seine Neugier – das ist Zöllners These –, die ihn zum Wissenschaftler machten. In einer poetischen Vision beschrieb der Maler in Anlehung an Platons Höhlengleichnis seine Wissbegierde: „Und gezogen von meinem sehnsüchtigen Verlangen, begierig, die enorme Fülle der verschiedenen und seltsamen, von der kunstfertigen Natur hervorgebrachten Formen zu sehen, gelangte ich zum Eingang einer großen Höhle.“ Etwa um die gleiche Zeit, als er diese Zeilen schrieb, zeichnete Leonardo seine berühmte Proportionsfigur in Kreis und Quadrat, mit der er Vitruv und das Wissen der Antike übertraf. Der Kunst kam Leonardo in seinem Leben immer wieder abhanden.

Weil ihm die Kunst allein nicht genügte.

Frank Zöllner stellt „Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen“ heute in Berlin um 19 Uhr in der Italienischen Botschaft vor .

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