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Kultur: Das Verschwinden des Verschwommenen

Ein vergessenes Genre wird wiederentdeckt: „Kunstfotografie um 1900“

Fotos, behauptet ein weit verbreiteter Irrtum, zeigen die Welt so, wie sie ist. In Wirklichkeit zeigen Fotos die Welt immer nur so, wie sie der Fotograf sich vorstellt. „Ja, diese Photographen haben die Tradition der künstlichen, reproduzierenden Photographie durchbrochen“, schrieb Fritz Matthies-Masuren 1898. „Sie haben sich von der ,Photographie’ befreit und ihre einzigen Vorbilder in der Natur und den Werken bildender Künstler gesucht, sie haben die photographische Schärfe, die klare und störende Zeichnung der Einzelheiten verschwinden lassen und damit die einfache große Erscheinung erreicht.“ Ein Plädoyer für eine Fotografie, bei der die Schärfe und die Details bloß „stören“, die „Erscheinung“ sein soll statt Abbild, käme heutzutage einer ästhetischen Bankrotterklärung gleich. Zum Zeitpunkt seiner Formulierung war es der Ausdruck eines radikalen Reformprogramms.

Fritz Matthies-Masuren (1873-1938) ist einer der wichtigsten Protagonisten der so genannten „Kunstfotografie“, die um die vorletzte Jahrhundertwende ihre Blüte erlebte. Fotografen litten unter einem Minderwertigkeitskomplex. Sie fühlten sich als Sklaven der Wirklichkeit, ihre Arbeit galt bestenfalls als Handwerk und nicht als Kunst. Deshalb entwickelten sie Techniken, um ihre Fotos wie Gemälde aussehen zu lassen. Die Fotografen nannten sich „Lichtbildner“, Filme und Fotoplatten waren ihre Leinwände. „Stimmung“, „Gefühl“ und „Ausdruck“ wurden Leitbegriffe der Bewegung. Matthies-Masuren forderte das „empfindsame Abbilden“ als Grundlage einer „Kultur des Auges“.

In England und Amerika hatte sich die „Pictorial Photography“ ausgehend von der Arts-and-Crafts-Bewegung seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, Alfred Stieglitz, Edward Steichen und Frederick H. Evans waren ihre Stars. Neben den Profis schlossen sich auch viele ambitionierte Amateure, die bei der Wahl ihrer Motive unabhängig waren, der Kunstfotografie an. In Deutschland wurde Matthies-Masuren – er war Fotograf, Publizist und Kurator – einer der einflussreichsten Förderer der neuen Richtung. Das von ihm geführte „Photographische Centralblatt“ machte er zum Publikationsort der „bildmässigen Photographie“. Daneben gab er Bücher heraus, veranstaltete Ausstellungen und wählte Fotografen als Teilnehmer an den Weltausstellungen aus. Das „Photographische Centralblatt“, das später mit der „Photographischen Rundschau“ fusionierte, leitete er von 1897 bis zu seinem Tod 1938.

Fritz Matthies-Masuren kann jetzt wiederentdeckt werden, in einer Ausstellung, die einer historischen Tiefenbohrung gleicht. Die Kunstbibliothek zeigt unter dem Titel „Kunstphotographie um 1900“ rund 100 Aufnahmen aus seiner Sammlung. Im Februar 1914 war die Sammlung in der Bibliothek des Kunstgewerbe-Museums, der Vorgängerinstitution der Kunstbibliothek, präsentiert worden. Anschließend blieben die 140 Fotografien in Berlin, zunächst als Leihgabe, 1924 wurden sie dann für 500 Goldmark angekauft. Sie galten als Dokumente und wurden als Fundus für Bildquellen benutzt. Eigenständige künstlerische Leistungen mochte man in ihnen nicht sehen.

Dunkle Berge, steife Posen

Heute wirken die meisten der „Kunstphotographien“ eher interessant als wirklich gelungen. Die Bilder, aufwändig als Pigment-, Kohle- oder Gummidruck hergestellt und mitunter sogar mehrfarbig koloriert, schimmern in samtenen Braun-, Blau-, Schwarztönen. Man glaubt durch einen wilhelminischen Salon zu streifen, über dem ein schwerer Geruch von Zigarrentabak und Riechsalz hängt. Es gibt Landschaften, Interieurs, Porträts, Akte und Genreszenen. Die Aufteilung der Genres folgt immer noch der holländischen Fachmalerei des 17. Jahrhunderts.

Die Gegenwart, die diese Fotos zeigen, war bereits vergangen, als sie entstanden. Es sind nostalgische Arrangements, die den Kompositionsmustern und Posen der Malerei folgen. Dwight A. Davis platziert eine Trachten tragende Spinnerin vor einen Kamin, als wäre sie von Vermeer. Mit James Craig Annan folgen wir einer Gruppe junger Männer ins Hochgebirge der „Dark Mountains“, die romantischen Rückenfiguren könnten von Caspar David Friedrich stammen. Rosshirten sitzen am Lagerfeuer, Fischerinnen stapfen Dünen hinauf, Kirchgänger schreiten in Sonntagsstaat. Selbst Industrielandschaften sehen alles andere als neuzeitlich aus. Bei Frank H. Read ragen die Docks von Southampton trutzig wie mittelalterliche Burgen empor, der „Harlem River“ von Arthur Hammond ist ein modriger Fluss ohne Wiederkehr.

Am besten sind die Bilder, die reine Stimmungen wiedergeben. Rudolf Eickemeyer zeigt einen Strand bei Ebbe, in dem sich flirrendes Abendlicht spiegelt. Dudley J. Johnston lässt die Sonne dramatisch hinter Wolken und Wipfeln verschwinden und nennt sein Bild „Das Tal des Drachens“. Bei Frederick Henry Evans flutet aus einer spaltbreit geöffneten Tür gleißendes Licht in eine gotische Kathedrale. Was mag sich dahinter verbergen? Die Putzigkeit mancher Aufnahmen ist schwer erträglich. Weichgezeichnete Kinderporträts von Dwight A. Davis oder Drahomir Ruzicka heißen „Meine kleinen Nachbarn“, „Wenn die Vögel singen“ oder „Als wir noch Jungen waren“ und sehen auch genauso aus.

„Charakteristische Ähnlichkeit ist die erste, selbstverständliche Forderung“, schrieb Fritz Matthies-Masuren 1898 über die Porträtfotografie. „Die zweite Bedingung ist die, den Charakter auch künstlerisch zum Ausdruck zu bringen – keine schwachmütige, fade Künstelei, sondern gesunde natürliche Auffassung.“ Von einer Wand der Ausstellung blickt eine ganze Galerie von Porträts herab. Die Gesichter dieser Menschen sind oft halb verschattet, sie fassen sich an den Hals, pressen einen Arm an die Brust, stützen müde ihre Köpfe. Irgendetwas scheint sie zu bedrücken. Ein halbes Jahr, nachdem Matthies-Masuren seine Ausstellung eröffnet hatte, brach der Erste Weltkrieg aus. Von der Unschärfe und der Pomphaftigkeit der Kunstfotografie wollte das „Neue Sehen“ der Zwanzigerjahre nichts mehr wissen.

Kunstbibliothek, bis 15. Juni. Di–Fr 10 bis 18, Sa und So 11 bis 18 Uhr.

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