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Kultur: Das wär ’ne Nummer vor dem Schlummer!

Bachanal im Maxim Gorki Theater: David Marton entführt die Matthäuspassion ins „Café Vaterland“

Felix Mendelssohn-Bartholdy war neunzehn, als er Bachs „Matthäuspassion“ für sich entdeckte. Was ihn an der Musik faszinierte, war ihr dramatischer Atem. Die Aufführung im Haus der Sing-Akademie zu Berlin, die Mendelssohn am 11. März 1829 mit eigenhändig aufgepeppter Instrumentation, Riesenorchester und 400 Choristen dirigierte, war ein Triumph. Mit dem Bach, wie er heute geschätzt wird, hatte das wenig zu tun. Aber Mendelssohn gewann mit seinem beherzten, jugendlich unbekümmerten Zugriff den bis dahin vergessenen Komponisten für die Romantik zurück.

Am selben Ort, der heute das Maxim Gorki Theater beherbergt, bringt nun der 1975 geborene David Marton die „Matthäuspassion“ auf die Bühne. Als surreale Revue, als wüste, atheistische Klangcollage. Eben so, wie es einem jungen Menschen des 21. Jahrhunderts in den Sinn kommt. Er tut es mit Respekt: Alle seine Darsteller lieben offenbar diese Musik, selbst wenn sie Fetzen aus der Partitur flüstern, bellen, scatten, schreien.

Ausstatterin Alissa Kolbusch hat die Fünfziger-Jahre-Wandverkleidung des Theatersaals auf die Bühne gespiegelt. Es gibt DDR-Mobiliar, einen mit Porzellan geladenen Servierwagen, einen Flügel, fünf elektrische Orgeln und ein Panoramafenster, aus dem man via Video (Isabel Robson) aufs „Haus Vaterland“ blickt, jenes legendäre, 1928 eröffnete Vergnügungsetablissement am Potsdamer Platz, das zehn Erlebnisgastronomien unter einem Dach vereinte. Hier könne man bequem vom Rhein in die Puszta, von Spanien nach Amerika reisen und dabei doch immer im Vaterland bleiben, heißt es in einem zeitgenössischen Gassenhauer: „Das wär ’ne Nummer vor dem Schlummer.“

Bach ist bei David Marton zum Meer der Assoziationen geworden. Heimat ist das Thema, zu dem er hin will und von dem er gleichzeitig auch immer weg strebt. In seinem Stück „Café Vaterland“ serviert der gebürtige Ungar, der seit 1996 in Berlin lebt und seine sinneverwirrenden Musiktheaterprojekte bislang in den Sophiensälen realisiert hat, eine postmoderne Stil-Melange, einen Latte Macchiato der Uneindeutigkeiten.

„Ey, wie schmeckt der Coffee süße“, möchte man mit Bach ausrufen, wenn die drei Sängerinnen am Zuge sind: Theresa Krontaler, Finalistin beim Bundeswettbewerb Gesang 2006, und Yuka Yanagihara begegnen dem Komponisten auf Augenhöhe, Jelena Kuljic testet den alten Meister auf Nachtclubtauglichkeit. Und der hält das aus, ebenso wie Jan Czajkowskis hammerharte Tastenattacken, Roland Kukulies Slapsticks, die Überblendungen mit schnödem Schlagermaterial.

„Café Vaterland“ funktioniert nach dem Prinzip von Frank Wittenbrinks melancholischen Geselligkeitsabenden. Manchmal wird auch geredet. Ursula Werner schwärmt vom „würzigen Südwein“, Wolfgang Hosfeld zitiert Werner Heisenberg, ein Beziehungsgespräch mündet in die Arie „Erbarme dich“, Radoslaw Jozef Drechny spielt Akkordeon unterm Tisch, mit ergreifendem Eine-Sehnsucht-ganz-egal-wonach-Blick. Freunde der historisch aufgeklärten Barockmusikexegese und Fundamentalprotestanten müssen hier ganz tapfer sein. Wer beim Gedanken an „Ich will bei meinem Jesu wachen“ auf fünf winselnden Hammondorgeln Stehhaare bekommt, suche Trost bei einem klassischen Werbeslogan der siebziger Jahre: Mein Bach, dein Bach – Bach ist doch für uns alle da!

Wieder am 25. 2 sowie 4., 11. und 27. 3.

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