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Kultur: Deine Leiche, meine Leiche

Betrachtete Betrachter: Bei „Cut & Paste“ im Berliner Hebbel am Ufer geht es vor allem um eins – den Zuschauer

Es ist passé, sich passiv ins Theater zu setzen. Die Grenze zwischen Akteur und Betrachter existiert nicht mehr. Zumindest gilt das für die meisten jener jungen europäischen Produktionen, denen das Hebbel am Ufer derzeit mit dem „Cut & Paste“-Festival eine Bühne bietet – auf welcher sich das Publikum im Scheinwerferlicht wiederfindet. Dort, wo man nicht zum Spielmacher bestimmt ist, droht wenigstens eine handfeste Identitätskrise: die weiße Mittelstandsexistenz, die man da in die Zuschauerreihen trägt, soll frontale Erschütterung erfahren.

Die Cafétisch-Installation „Etiquette“ der Londoner Gruppe Rotozaza, eingerichtet im Hebbel-eigenen Wirtshaus am Ufer, lädt zu einem Blind Date unter dem Motto: Zwei Zuschauer suchen ein Stück. Beide tragen Kopfhörer und folgen Anweisungen vom Band, sprechen etwa Passagen nach, die einen Dialog aus Godards „Vivre sa vie“ ergeben. Was konkret bedeutet, dass einem eine Unbekannte gegenübersitzt und offenbart: „Ich bin eine Prostituierte.“ Schöne Situation, die auch die regulären Gäste an den Nebentischen aufhorchen lässt. Man bedient Kleinstrequisiten, darunter Knete, Spielfiguren und Kreide, mit der man eine Bühne auf den Tisch malt, die zum Schauplatz einer Sequenz aus Ibsens „Nora“ wird. Um Augenblickskonstruktionen von Kunst im Kopf geht es den Machern Ant Hampton und Silvia Mercurali, auch um die flüchtige Intimität der Zufallsbegegnung in der Öffentlichkeit. Ein vergnüglich-philosophisches Hör-Spiel, zwischen Pirandello und Speed-Dating.

Noch radikaler arbeitet der Niederländer Dries Verhoeven, dessen Wohnwagen-Projekt „Dein Reich komme“ als Existenzialisten-Peepshow funktioniert. Wieder begegnet man einem unbekannten anderen, in diesem Fall durch eine Glasscheibe getrennt. Zuschauerin und Zuschauer, beide barfuß, sitzen vis-à-vis. Er vernimmt die sanft-schmeichelnde Stimme einer Frau vom Band, sie die eines Mannes – man darf sich einbilden, dass es tatsächlich die Person jenseits des Glases ist, die da zu einem spricht.

Das Theater ist hier Verführungsmaschinerie, fast schon Ehe-Anbahnungsinstitut. Zur Fantasieflucht fordert die Band-Stimme auf: Vergiss, wer du bist. Spätestens, wenn man die nackten Füße in den warmen Sand unter einer Bodenluke taucht und milder Wind durch die Lüftung in den Wohnwagen bläst – die Möglichkeit einer Insel! – gewinnt dieses Experiment über die Einbildungskraft enormen Charme.

Identität also ist das Oberthema des Festivals, das brüchige Selbst-, das verschwommene Fremdbild. Die gebürtige Koreanerin Young Jean Lee, die in den USA lebt, karikiert in ihrer Xenophobie-Farce „Songs of the Dragons Flying to Heaven“ die Vorurteile, denen sie begegnet. Von den vielen Gesichtern der Fremdheit werden auch die kommenden „Cut & Paste“-Produktionen erzählen, von einem Gefüge, das wir Wahrheit nennen: Die Antwerpener Gruppe Berlin porträtiert in der Film-Performance „Bonanza“ eine verlassene Bergbaustadt, der polnische Regisseur Marcin Liber führt mit „Der Tod des Eichhörnchenmenschen“ eine rasante RAF-Revue auf. Das Dubliner Pan Pan Theater zelebriert in „Oedipus Loves You“ die griechische Tragödie als Familien-Soap mit Live-Rock, die Wiener Gruppe God’s Entertainment will mit „Fight Club – realtekken“ die Gewaltbereitschaft des Publikums hervorkitzeln: es kann die Performer fernsteuern und zu Handgreiflichkeiten treiben.

Das erfordert ebenso mutige Schauspieler, wie sie in der bis dato besten Inszenierung des Festivals agierten, in Bernhard Mikeskas Zürcher Installation „Rashomon: Truth Lies Next Door“. Wiederum mit Verve wird der Zuschauer hier ins Geschehen involviert, das auf der Novelle „Im Dickicht“ gründet, die auch Vorlage des berühmten Kurosawa-Films war. Jeweils ein Zuschauer checkt an der Rezeption eines Hotel Angst ein, wird im schäbigen Zimmer via Fernseher über einen Mord informiert, hört die Zeugen. Ein Mann ist tot, eine Frau verschwunden, ein Mörder gefasst.

Der steht einem bald leibhaftig gegenüber und erzählt seine Version der Ereignisse, bevor man in den weiteren Räumen dieser David-Lynch-mäßigen Absteige auch der Sicht der Frau und des Toten lauscht. Eine beklemmende Eins-zu-Eins-Situation, ein sinistres Perspektiven-Spiel, das nicht die Lösung des Falles betreibt, sondern die Auflösung aller Gewissheit. Am Ende begegnet man (per Video) jemandem, den man im Theater ganz sicher nie sehen wollte: sich selbst.

Noch bis 15.12., das volle Programm unter: www.hebbel-am-ufer.de

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