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Kultur: Der 28-Stunden-Tag

Theaterhoch in der Niederlausitz: Wie die Neue Bühne Senftenberg Arbeitslosen Mut macht

Von hier führt keine Tür mehr nach draußen für Trainee Karla. Klaustrophobisch nahe gerückt sind die dunklen Bühnenwände mit den Kleidern der Arbeitslosen, die mit ihren Mänteln, Röcken, Hosen ihre Identität weggehängt haben. Denn im Deutschland des Jahres 2016 ist ein arbeitsloses Leben ein wertloses Leben.

Wenn Sewan Latchinian an der Neuen Bühne Senftenberg Joachim Zelters Zukunftsvision „Die Schule der Arbeitslosen“ inszeniert, so ist das nirgendwo bitterer und realistischer als in der Niederlausitz, gerade mal anderthalb Autostunden von Berlin entfernt. Seit der schrittweisen Abwicklung des DDR-Braunkohlekombinats nach 1990 ging es auch in Senftenberg nur noch bergab. Weil weder die Millionen Fördergelder noch die Renaturierung der Tagebaubrachen in den vergangenen Jahren neue Arbeitsplätze schufen, ging fort, wer noch konnte. Heute leben hier 40 Prozent Rentner, jeder Vierte in der Region hat keinen Job. Und doch hat diese kranke Region eine Bühne hervorgebracht, die seit der Wahl zum „Theater des Jahres“ 2005 kontinuierlich gute Arbeit leistet.

„Provinz ist eine Frage der Lebenshaltung, nicht des Ortes“, sagt Intendant Latchinian, der mit einem Jahresetat von 3,7 Millionen um die zwanzig Premieren pro Spielzeit stemmt. Und mutig ist. Weil sich das Berliner Ensemble nicht an die Uraufführung von Volker Brauns „Was wollt ihr denn“ wagte, hatte das Stück 2005 an der Neuen Bühne Premiere und brachte dem Theater den Durchbruch. Die aktuelle Spielzeit eröffnete mit dem Mammutprojekt „Faust I und II“. Latchinian hat für sich und die Schauspieler den 28-Stunden-Tag eingeführt. „Produktive Selbstüberforderung“, nennt das der gebürtige Leipziger mit den armenischen Vorfahren, der in Berlin als Schauspieler und Regisseur tätig war.

Weil wenig Geld da ist, aber das Ensemble viele Ideen hat, steht die Neue Bühne Senftenberg für eine Ästhetik äußerster Reduktion. Auf der Bühne gibt es keine Schwimmbäder, überdimensionalen Videoprojektionen, keine BlendArien, Wagnerchöre oder Tiere. Hier konzentriert sich alles auf das Spiel der Akteure, das beklemmend intensiv in den Zuschauerraum übergreift. Wenn es im kindlichen Gesicht von Trainee Bergmann (Christian Mark) arbeitet, dessen Biologiestudium höhnisch als „Zeitverschwendung“ abgetan wird. Wenn Bewerbungscoach Fest im weißen Trainingsanzug und grünen Arztkittel der arbeitslosen Floristin Anne (Juschka Spitzer) brutal sein „Sie sind zu alt!“ ins Gesicht schleudert. „Sphericon“, wie Autor Zelter das fiktive Arbeitsbeschaffungsprogramm der Bundesagentur für Arbeit nennt, vernichtet jeden Stolz gnadenlos.

Und es schreibt die verfehlten Leben einfach um. Wer keinen Auslandsaufenthalt vorzuweisen hat, denkt sich einfach einen aus. „Was haben Sie in der Zeit zwischen Abitur und Studium gemacht?“, fragt Trainer Fest. „Nichts“, antwortet Karla. Inge Wolff gibt die junge Frau, die allzeit unsicher in der Welt steht, aber immer bei sich selbst ist, mit großen Augen und clownesker Schusseligkeit. Wie ihre gesichtslosen Mitstreiter, die bald hinter den Kleiderständern verschwinden, bis nur noch ihre Füße zu sehen sind, trägt auch sie die orange Gefängniskleidung mit Haube.

Nächtliche Verhöre, Isolationshaft und eine Essensausgabe, die nach der Leistung des Arbeitslosen bemessen ist, sind in dieser düsteren Vision Teil der Transformation des Arbeitslosen zum Bewerbungsprofi, zum Träger des Certificate of Professional Application. Auch die Sprache, die bekanntlich das Denken bestimmt, wird mit schmissigen Anglizismen getunt. Aus dem Arbeitslosen wird ein „Trainee“. Und dieser hat allzeit „ready, able and willing“ zu sein. Karlas Lebenslauf zeigt nichts davon. „Lücken, ich sehe nur Lücken. Ihr Leben ist eine einzige Lücke“, brüllt Fest den Trainee an. Der ehrgeizige Coach gerät dem Schauspieler Lutz Aikele zur Karikatur des strebsamen New-Economy-Typen. Ganz nach dem Vorbild der Aspiranten in der bizarren US-Serie „Job Quest“ oder ihrem deutschen Abklatsch „Big Boss“ auf RTL, wo sich strebsame Mittzwanziger von Leverkusens Ex-Manager Calmund runterputzen ließen und das eine „wichtige Lebenserfahrung“ fanden.

So gewinnt Regisseur Latchinian dem finsteren Roman Zelters auch Komik ab. Den schwierigen, thesenhaften Text meistert die Inszenierung. Und wenn „Deputy Headmaster“ Armstrong (Heinz Klevenow) grandios am aufgesetzten Englisch scheitert, das „Sphericon“ zur Amtssprache erhoben hat, dann erfüllt die Groteske ihre uralte Funktion, Angst zu überwinden. „Warum nicht lachen über die scheinbar allmächtigen Jobvermittler in der Arbeitsagentur Senftenberg?“, fragt Latchinian. Der bullige Typ ist kein Missionar, aber jemand, der sein Gegenüber mit Respekt behandelt. Weil Hartz IV 1,50 Euro pro Tag für „Kultur“ berechnet und davon keine Theaterkarte zu kaufen ist, haben die Arbeitslosen freien Eintritt bei allen Generalproben.

Das Theater Senftenberg selbst beschäftigt drei 1-Euro-Jobber. Dass es damit die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen kann, weiß auch der Bühnenchef. „Wenn das Theater verschwindet, fällt hier die Barbarei ein“, sagt er, der mit seiner Glatze selbst so aussieht, als würde er keiner Schlägerei aus dem Weg gehen. Aber er hat geschafft, was viele ihm nicht zugetraut haben. Bis 2009 steht die Finanzierung der Bühne, die eine Auslastung von 78 Prozent vorweisen kann. Auch wenn noch jeder vierte Besucher aus Berlin, Potsdam oder Dresden anreist, wird das ehemalige „Theater der Bergarbeiter“ wieder sinnstiftendes Zentrum von Senftenberg. Sewan Latchinian und sein Ensemble nutzen die Provinz, das „Subventionsgrab“ Senftenberg, als Inspirationsquelle. Und sie sind damit weniger provinziell als so manches, was die Hauptstadt auf die Bühne bringt.

„Sphericon“ wieder am 8., 21. und 26.12., 19 Uhr 30.

Britta Weddeling

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