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Gabriele Goettle scheut die Öffentlichkeit, Fotos von ihr gibt es kaum. Hier das Cover ihres bei Kunstmann erschienenen Buchs "Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems"

© Verlag Antje Kunstmann

Der Autorin Gabriele Goettle zum 70.: Auge in Auge

Ein Gruß zum 70. Geburtstag der Reporterin und Schriftstellerin Gabriele Goettle. Und eine betrübliche Nachricht: Just zum Festtag wurde ihr die langjährige Mietwohnung in Berlin-Lichterfelde fristlos gekündigt.

Sie ist eine Unbestechliche, ein Unikum, ein Unikat, eine der großen deutschsprachigen Reporterinnen. Seit bald 30 Jahren erscheinen ihre Menschengeschichten regelmäßig in der "taz". Die gehen so, dass Gabriele Goettle Leute aufsucht, die etwas Interessantes tun oder in deren Biografie ein interessanter Gedanke steckt – und sei die Biografie auf den ersten Blick noch so  unspektakulär -, dass sich Goettle von diesen Menschen etwas erzählen lässt und das Erzählte reportiert, oft im Wortlaut, in langen Protokollen. Weil Goettle aber so protokolliert, dass die Abschrift in Literatur umschlägt, weil sie keinesfalls von ihrem berühmten Aufnahmegerät einfach nur abschreibt, sondern nachschreibt, nachempfindet, nachsinnt, kann man sie getrost eine Schriftstellerin nennen. Eine, die hinschaut, hingeht, zuhört, sich Zeit nimmt, was im Journalismus von heute ja schon fast ein Unding ist. Sie ist eine Schriftstellerin, die einen lehrt, dass jeder Mensch etwas Besonderes ist, ein Unikum, ein Unikat. Ob sie nun in ein Altersheim geht, mit Obdachlosen spricht, mit Geschäftsleuten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern.

Der auf den ersten Blick dokumentarische Stil der lange unter dem Logo "Freibank" erscheinenden Texte wird gern mit dem des amerikanischen New Journalism verglichen. Der Journalist und damalige "taz"-Redakteur Arno Widmann, der Goettle Ende der Achtziger ins Blatt holte, brachte es treffender auf den Punkt, als er einmal meinte, in der vielstimmigen Komposition ihres Oeuvres erklinge „der Sound der Bundesrepublik“.

Goettles Reportagen sind als Bücher in der "Anderen Bibliothek" erschienen - und bei Kunstmann

Angefangen hat die 1946 in Aschaffenburg geborene Goettle, als es hoch herging im Feminismus hierzulande. Sie studierte Bildhauerei, Literaturwissenschaft, Religions- und Kunstgeschichte und gab  die Berliner Anarcho-Frauenzeitschrift „Die schwarze Botin“ mit heraus, als auch „Courage“ und „Emma“ Furore machten, sie publizierte bald in der „Zeit“ und dann eben in der „taz“, in der sie 1987 auch die legendäre Schriftsteller-„taz“ als temporäre Chefin leitete. Da war Hans-Magnus Enzensberger einer ihrer temporären Redakteure und Leitartikler. Ein Verehrer: In seiner „Anderen Bibliothek“ druckte er die Goettle-Reportagen später zwischen zwei Buchdeckeln und überließ ihr sein Preisgeld, als er den Ludwig-Boerne-Preis erhielt. Inzwischen sind viele Bücher von ihr erschienen, "Deutsche Sitten", "Deutsche Spuren", "Die Ärmsten", "Die Experten" und viele mehr, bei Eichborn, im Verlag Antje Kunstmann. Und längt erhielt sie selber etliche Auszeichnungen, darunter den Ben-Witter-Preis oder letztes Jahr den Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim.

Den mit 20.000 Euro dotierten Joachim-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, den sie ebenfalls 2015 erhielt, nahm sie nicht persönlich an. Sie wollte kein Geld von einem Pharma-Unternehmen, so ihre Begründung – und spendete die Summe einer pharmakritischen Initiative. Eine Unbestechliche eben.

Gabriele Goettles bei Kunstmann erschienenes Buch "Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag" (Cover, Ausschnitt) erschien 2012.
Gabriele Goettles bei Kunstmann erschienenes Buch "Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag" (Cover, Ausschnitt) erschien 2012.

© Verlag Antje Kunstmann

Gerne möchte man Gabriele Goettle nun zum 70. Geburtstag am heutigen Dienstag gratulieren, sich vor ihrem bisherigen Lebenswerk verneigen und ihr das Allerbeste für die Zukunft wünschen. Allerdings trübt eine eigentümliche  Nachricht den Festtag. Just zum heutigen 31. Mai wurde der Schriftstellerin ihre Mietwohnung fristlos gekündigt, das Schreiben traf erst vor einigen Tagen ein. Seit fast 40 Jahren lebt Goettle gemeinsam mit der Zeichnerin und Fotografin Elisabeth Kmoelniger in einer alten Villa in Lichterfelde-West, lange gab es vier weitere Mietparteien. Inzwischen musste eine Partei ausziehen, auf zwei Wohnungen hat die Vermieterin Eigenbedarf angemeldet und ging zu diesem Zweck auch vor Gericht. Offenbar will sie nun, dass auch Goettle auszieht. Die Begründung für das fristlose Raus: der Brandschutz. Es geht, so berichtet Goettle, um einen Schrank, der dort von der ehemaligen Hausbesitzerin aufgestellt wurde. Auf jener Seite des Flurs, die vom Mietvertrag mit abgedeckt ist.

Über Barbara Duden, die jetzige Hausbesitzerin, schrieb Goettle 2005 eine ihrer Geschichten

Bei der jetzigen Eigentümerin handelt es sich um Barbara Duden. Über einen Hausbesuch bei der in Bremen lebenden Medizinhistorikerin und Geschlechterreporterin hatte Goettle 2005 eine ihrer einfühlsamen Geschichten geschrieben. Darin berichtet sie vom offenen Haus der Soziologin, von deren Großzügigkeit: „Diese ungewöhnliche Gastfreundschaft  ist sozusagen eine Herzensangelegenheit von Barbara Duden, die sich damit leistet, was viele sich leisten könnten“, schrieb Goettle. Die beiden kennen sich von früher: Duden hatte Ende der 70er Jahre die feministische Zeitschrift „Courage“ mitgegründet. Umso trauriger der jetzige Zwist.  

Gesprochen hat Duden nicht mit Goettle über die Kündigung, der Schrieb erreichte die Mieterin  aus heiterem Himmel. Nun läuft es auf einen Rechtsstreit hinaus.

Gesellig ist Goettle nicht. Wer sie kennt, weiß, sie vermeidet die Öffentlichkeit, ist das Gegenteil einer Netzwerkerin. Fotos von ihr? Fehlanzeige. Ihre Spezialität ist die einzelne Begegnung, Auge in Auge. Es wäre sehr traurig, wenn nun ausgerechnet das Datum ihres 70. Geburtstags zu dem Tag würde, an dem Gabriele Goettle die Basisstation für diese Begegnungen und literarischen Unternehmungen entzogen würde.

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