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Kultur: Der Bauchladen des Architekten

Locker vom Hocker oder Dänen frieren nicht: Bob Wilsons Bühnen-Kreation „The White Town“ in Kopenhagen

Vier Männer, bloß mit weißen Handtüchern bekleidet, trippeln in Reih und Glied über den Rasen zum Steg, legen ab und springen kopfüber ins Meer. Da drängen sich zwei Fragen auf: Wie kalt ist die Ostsee Ende Oktober und – gehört der bravouröse Auftritt im zartblauen Abendlicht schon zu dem Stück von Robert Wilson, das hier gleich im Strandtheater Bellevue uraufgeführt wird?

Das ist das Schöne, das Notorisch-Fantastische bei Wilson: In seinem globalen Dunstkreis verwandelt sich jedes Detail, jede Bewegung unwillkürlich in ein Traum-Bild, ein Design-Objekt, ein Artefakt. Die Welt als Bühne und Museum. Die Bühne als profaner Altar. Was hat der sanft-magische Magier, in dessen Augen man manchmal, wie bei Disneys Onkel Dagobert, aufblitzende Dollarzeichen zu erkennen glaubt, hier nun wieder eingerichtet – in Klampenborg, dem Villenvorort und Strandbad von Kopenhagen!

„The White Town“, weiße Stadt, titelt Wilson in seinen schrägen Lettern das Auftragswerk für die Kulturbro-Biennale in der dänischen Hauptstadt. Ein site specific project. Die Hommage ist dem Architekten und Designer Arne Jacobsen gewidmet, einem Helden der Moderne, dessen (ideeller) 100. Geburtstag in Dänemark groß gefeiert wird. Die Klampenborger Strand-Partie gehört zu Jacobsens zentralen Werken: Am Öresund realisierte der Däne in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine strahlend-südländische Vision, die Wohnanlage Bellavista, das Strandbad und das (Sommer-)Theater Bellevue, dessen Zuschauerraum mit grau-blauem Leinen und Bambus ausgeschlagen ist, wie ein Strandkorb. „The White Town“, eine späte Reminiszenz an den Sommer der Avantgarde, ein Wintermärchen.

Wenn man auch sonst nichts von Arne Jacobsen weiß, so hat man doch irgendwo schon mal auf einem seiner weltberühmten Stühle gesessen, diesen schlanken, geschwungenen Möbeln, die nicht nur animalische Formen nachahmen, sondern auch so heißen: die Ameise, der Schwan, die Giraffe, das Ei. Architektur und Design, das ist Wilsons Metier. Stühle! Er sammelt Hocker, Throne, all das vielbeinige Geflecht und Gewinde aller Kontinente und Kulturen. Bob Wilson und die Stühle, das ist wie Citizen Kane und der Schlitten, rosebud. Markenzeichen, Seele, Geheimnis. Ich sitze, also bin ich?! Doch der letzte Tycoon des Welttheaters gibt davon nichts preis. Nie. Fragt man ihn, was es mit seiner Stuhl-Obesession auf sich habe, erzählt er seit Jahren stereotyp zwei Geschichten – von einem ominösen Wilson’schen Familienstreit wegen eines Shaker-Stuhls und die indianische Legende vom waterjug-boy, der durch die Welt zieht, um seinen Vater zu finden.

Arne Jacobsen könnte als eine Art Vaterfigur für Robert Wilson betrachtet werden. Beide zelebrieren strenge Geometrie und kindlicher Verspieltheit gleichermaßen. Natürlich ist es eine merkwürdige Idee, einen Architekten mit einer Show zu würdigen. Was soll dabei herauskommen – tanzende Häuschen, Sitzgelegenheiten, die über die Bühne getragen werden? Als Wilson vor Jahren am Piccolo Teatro in Mailand eine sündhaft teure Galavorstellung zum Jubiläum der Architekturzeitschrift domus in Szene setzte, sah es auch genau so aus; ein zähes Ballett von Menschen und Möbeln. Für Kopenhagen hat sich der Amerikaner etwas anderes ausgedacht, schnell-schnell, wie immer. Wilson lässt Jacobsen einen guten, alten Herrn sein und zeigt sich von seiner Entertainer-Seite. „The White Town“ zitiert die eine oder andere Stuhl-Ikone herbei, zwischendurch wird in Jacobsens Bellevue-Theater auch mal die Silhouette der benachbarten Bellavista-Siedlung auf die Bühne geschoben und die Stimme von Jacobsen eingespielt, aber das war’s dann auch mit dem architektonischen Angedenken.

Die Bühne gehört der formidablen dänischen Schauspielerin Ulla Henningsen. Als wär’s ein geraffter „Peer Gynt“, ein Lebensgedicht en passant, tritt die zarte Fünfzigjährige mal als dickes Kind, mal als Greis mit Grammophon oder als Ballerina und auch mal als soignierter Herr auf; Ähnlichkeit mit Jacobsen nicht ausgeschlossen, aber unerheblich. Ein amerikanisch-skandinavisches Vaudeville mit einer Solistin, die sich musikalisch zwischen alle Stühle setzt: Die Band spielt Jazz, Cha-Cha-Cha, Rock, nordische Folklore und auch ein bisschen Country- Blues. Ulla Henningsen singt sich mit gebremster Wilson’scher Energie schön langsam die Seele aus dem Leib. Lou Reeds „Men Of Good Fortune“: Was hat die nihilistische Apotheose vom legendären „Berlin“-Album hier zu suchen? Wieso scheint Jimmie Rodgers „Kentucky Moon“ über Dänemark?

Es tut nichts zur Sache, es ist einfach schön. Nein: ergreifend. Wie sich plötzlich das Schiebedach des Theaters öffnet und ein kalter Wind hereinweht und das Kind im Matrosenanzug auf die Sterne zielt mit seinem Holzgewehr. Und wie Ulla Henningsen auf einem steilen Wilson-Sofa mit Kopfstütze vollkommen unbeweglich Nick Caves Weltschmerz-Hymne „People Ain’t No Good“ herausstößt – einer der schönsten Momente in Wilsons Fließbandproduktion seit langem. „The White Town“ mag ein kleiner Wilson sein, doch es schwirrt ironische Anarchie und ziellose Entdeckerlust in diesem Abend. Der passende Stuhl für die weiße Stadt wäre ein Freischwinger. Oder ein Barhocker.

Am Morgen nach der „White Town“-Premiere tat Bob Wilson das, was er nach einer Premiere immer tut. Er bestieg ein Flugzeug. Seine Kopenhagener „Woyzeck“-Inszenierung aus dem Jahr 2000, die auch schon in Berlin gastierte, reist nach New York. Nächstes Jahr wird es am Berliner Ensemble Wilsons „Leonce und Lena“ geben, den Schluss der Büchner-Trilogie. Vom großen Wilson- Kuchen wieder ein Stück – was dann immer auch schon das Ganze ist.

Und die Schwimmer? Springen wieder ins Wasser. Mach dir die Kälte zum Freund, so erklären die Skandinavier die Performance.

Rüdiger Schaper

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