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Kultur: "Der Chronist der Winde": Krimiautor Mankell hat einen Roman über Afrikas Straßenkinder geschrieben

Shakespeare ist Henning Mankells großes Vorbild. "Der beste Thriller, der je geschrieben wurde, ist immer noch Macbeth", sagt der Krimiautor nachdenklich, "wie Shakespeare den Mord als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt, das ist einfach unübertroffen".

Shakespeare ist Henning Mankells großes Vorbild. "Der beste Thriller, der je geschrieben wurde, ist immer noch Macbeth", sagt der Krimiautor nachdenklich, "wie Shakespeare den Mord als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt, das ist einfach unübertroffen". Und vor allem der Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse prägt Mankells, auf schwedisch bereits 1995 erschienenen, Afrikaroman "Der Chronist der Winde". Jetzt lernt auch der deutsche Leser Henning Mankell als den Afrikaliebhaber kennen, der er von Kind auf war.

Seit etwa vierzehn Jahren hat er in Mosambik, einem der ärmsten Länder der Welt, seine "eigentliche Heimat" gefunden. Längst nahm ihn die Lebendigkeit und Exotik Afrikas gefangen. Aber er fühlt sich auch auf seine Weise verantwortlich gegenüber dem dortigen Elend. Vor allem das Leiden der unzähligen Straßenkinder, die am Rand der Gesellschaft leben, bewegt ihn. "Einmal auf der Straße, gibt es kein Zurück".

Mit Begeisterung leitet und sponsert der Skandinavier das neu gegründete Theater in seinem Wohnort Maputo, einem Armenhaus Afrikas. Die große Stadt am Indischen Ozean ist auch Schauplatz des neuen Werks. Wo in Mankells Krimis die Handlung oft vor trügerisch blitzsauberer Kleinstadtkulisse spielt, zeigt sich hier die Hölle des täglichen Überlebenskampfes unverhüllt in tödlicher Brutalität. "Junge Revolutionäre" haben die weißen Kolonialherren aus dem Land gejagt. Bürgerkriege und Überfälle von Banden verschonen auch nicht die Kinder auf der Straße. Die Geschichte von Nelio, dem bezaubernden zehnjährigen Straßenjungen, beginnt, als er Zeuge eines Massakers wird, bei dem Banditen fast seine gesamte Familie ermorden. Mit viel Glück entkommt er und gelangt nach einer Odyssee voller denkürdiger Begegnungen in die große Stadt am Meer.

Dort steigt das charismatische Kind nach kurzer Zeit zum Anführer eines "Rudels" von Straßenjungen auf und findet in ihrer Mitte eine Zuflucht. Der bis dahin Unverwundbare wird während einer nächtlichen Theaterfestorgie angeschossen. Blutüberströmt findet ihn der Bäckergeselle José auf der Theaterbühne und trägt ihn auf das Dach der Bäckerei von Dona Esmeralda, die legendäre, inzwischen neunzigjährige Tochter eines portugiesischen Kolonialherren. Sie hat das Hauptstadttheater aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und inszeniert nun mit einer bunten Schauspielertruppe ihre chaotischen Stücke. Neun Tage und Nächte versorgt José den sterbenden Nelio, der auf einer schmutzigen Matratze liegt und nachts um sein Leben erzählt.

Neun Nächte lang hat er Zeit für seine dramatische Geschichte, die das bisherige Dasein des gebannt lauschenden José radikal verändern wird. Als Nelio "ohne einen Funken Entsetzen" stirbt, glaubt der Gefährte seiner letzten Tage an den bevorstehenden Weltuntergang. Mankells kleiner Held tritt auf wie ein moderner Messias, umgeben von einer Schar zerlumpter, halb verhungerter, bettelnder Jünger, "eigentlich kein Mensch sondern ein Gott" mit geheimnisvoller Aura und wundersamer magischer Kraft, der Kranke heilen und Sterbenden die Todesangst nehmen kann, eine Lichtgestalt in einer hoffnungslosen Welt. Der Autor scheint die Schrecklichkeiten nur ertragen zu können, indem er das Geschehen enorm überhöht. Dann wieder gibt er dem Jungen Züge von Kurt Wallander, wenn er über das Böse im Menschen und das fratzenhafte Gesicht menschlicher Barbarei nachgrübelt.

Der Todgeweihte erzählt vom kleinen Heimatdorf und von einem Baby im Mörser, dessen Geschrei plötzlich abbricht. Es erzählt vom spurlos verschwundenen Straßenjungen Cosmos und dem zugelaufenen Albinomädchen Deolinda, die bei den Jungen sexuelle Wünsche weckt, von Nascimento, den nächtlich die Monster seiner Vergangenheit quälen und davon, wie der krebskranke kleine Alfredo Bomba von einer "merkürdigen Insel" träumt, nach deren Besuch man nie mehr vor irgend etwas Angst haben muss. Und doch kommt auch hier unvermittelt das Grauen von außen und zerstört eine bescheidene Idylle.

Jedes der Kinder hat Unvorstellbares erlebt. Mankells Aufmerksamkeit und Zuwendung gilt einfachen Menschen, die ihr kümmerliches Leben zu meistern suchen und oft kläglich scheitern.

Ihre Lebenswege begleitet er mit wunderbar nachdenklicher und dichter Erzählweise. Zwar kommt er dabei nicht ohne Klischees aus, hält sich aber mit Urteilen und Wertungen zurück. Eher sieht sich der Autor selbst als Chronisten - wie der Bäckergeselle, Ich-Erzähler und deutsche Titelheld José (im schwedischen Original lautet der Titel "Comédia infantil") - dies tut. Wo José seine Geschichte immer wieder erzählen muss und keinen anderen Zuhörer findet als den Wind, kann sich der erfolgsgewohnte Schwede einer Millionen-Leserschaft sicher sein. Denn dieses schrecklich-schöne Buch entfaltet einen einzigartigen Charme und liest sich genauso fesselnd wie seine Krimis.

Wie er auf Afrika-Romantik verzichtet, meidet Mankell auch Idyllisierung von Armut, Entbehrung, Elend und Einsamkeit dieser Kinder, deren Leben er dennoch nicht nur in düsteren Farben malt. Sie lachen, streiten, singen und tanzen, kennen Glücksgefühle und kindliche Begeisterung, haben Wünsche und Träume. Mankell weiß um den unglaublichen Überlebenswillen von Straßenkindern und ihre Energie. "Dieser Roman", sagt er, "hat einen besonderen Platz in meinem Herzen", und "die Realität ist immer furchtbarer, als ich es in meinen Büchern beschreibe."

Inge Zenker-Baltes

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