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Kultur: Der Fortschritt ist eine Schnecke

Viel Kunsthandwerk beim Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis – und immerhin eine Entdeckung

In Darren Aronofskys Independent-Kultfim „Pi“ (1998), einem genialen Vorläufer von „Matrix“, gibt es eine Szene, die hervorragend zum Ingeborg-BachmannWettbewerb zu passen scheint: Ein manischer, migränegeplagter Mathematiker gönnt sich bei seiner qualvollen Suche nach der Weltformel ein Ruhepäuschen am Strand und beobachtet im Sonnenuntergang einen alten Mann, der mit einem Metalldetektor nach verlorenen Wertgegenständen sucht, einen so genannten beach comber (deutsch: jemand, der den Strand kämmt). Der Alte stochert im Sand herum – die Ruhe in Person –, findet nur Coladosen und Haarclips, aber er wird aufmerksam auf eine unscheinbare Meeresschnecke, an der ihm (und kurz darauf dem Mathematiker) die Schönheit des Universums aufgeht.

Der Literaturfreund, der stoisch die drei Tage Klagenfurter Nachwuchs-Wettlesen live am 3sat-Bildschirm verfolgt hat oder gar selbst an den Wörthersee gepilgert ist, sucht die poetische Weltformel. Ein überspanntes Ansinnen? Vielleicht. Aber warum sollte die Zeit der deutschsprachigen literarischen Großgenies vergangen sein? Gibt es das doch: das Ende der Kunst? Sollten etwa Ingeborg Bachmann oder Thomas Bernhard die letzten Heroen der deutschsprachigen Literatur gewesen sein – und alles danach ist poetischer Post-Heroismus? Wo bleiben die Überzeugungstäter? Sollen wir am Strand, wo ein in den Sand gezeichnetes Menschengesicht so leicht weggespült wird, weiterhin die perfekte literarische Rolex suchen, das „gläserne Uhrwerk“, als das Goethe den literarischen Text beschrieb? Oder ist endgültig die Zeit der Meeresschnecken angebrochen, wie man nach dem diesjährigen Wettbewerb vermuten könnte?

Die neunköpfige Jury hatte durchaus die Gelassenheit von beach combers. Ihre Text-Detektoren haben Aussetzer, aber im Großen und Ganzen piepsen sie verlässlich – auch eine Coladose bringt ja heute immerhin Dosenpfand. Der Traum von der Rolex, die auch dieses Jahr nicht gefunden wurde, führt nicht mehr zu kritischen Verhärtungen, zu überbrutalen Urteilen wie bisweilen in den letzten Jahren, auf die nur die Blutrünstigen im Publikum spekulieren. Vor allem aber hatten alle neun Köpfe dieses intelligenten Jury-Monsters nebenbei ein Gespür für die Meeresschnecken.

Die ausgewogene Durchschnittlichkeit der meisten Texte nannte die Jury nicht unpassend „ordentliches Handwerk“. Vielleicht ist das eine Wirkung der sich im deutschsprachigen Raum allmählich durchsetzenden Möglichkeiten zum Creative-Writing-Studium, die immer mehr angehende Autoren wahrnehmen. Nur zwei Autoren fielen mit Aplomb durch und ließen partielle Absencen der beiden Juroren vermuten, die die Texte von Helmut Kuhn und Klaus Böldel für den Wettbewerb vorgeschlagen hatten. Die grobschlächtigen, deutschtümelnden, nieder- und oberbajuwarischen Heimat- und Gynäkologiestudien waren weit unter dem Niveau der beiden Autoren, deren vorangehende Publikationen bereits kritischen Anklang gefunden haben. Aber immerhin verteidigten die Juroren Heinrich Detering und Norbert Miller trotz scharfen Gegenwinds mutig ihre bedauernswerten Schützlinge – wie es sich gehört und in den Jahren zuvor nicht immer selbstverständlich war.

Gegen den Wettbewerbssieger Thomas Lang, Jahrgang 1967, der mit seinem Text „Am Seil“ den mit 22 500 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, lässt sich wenig einwenden. Sicherlich wurde unbewusst sein viel gelobtes Romandebüt mitbewertet („Than“, 2002), denn seine Gruselgeschichte von einem Sohn, der seinem geistig wachen, aber physisch kaum noch bewegungsfähigen Vater-Greis in einer alten Scheune beim Selbstmord helfen soll, hat doch etwas (modernistisch) Konventionelles. Zugegeben: „Am Seil“ hat suspense und auch sprachlichen drive, wie die Juroren sich ausdrückten. Aber ist nicht die pseudo-Beckett’sche Versuchsanordnung (Scheune, Flaschenzug, Vater hängt am Seil, Sohn zieht) nicht ein wenig antiquiert? Jedenfalls wirkte Langs Text bei vielen Beobachtern allzu offensichtlich auf die nach wie vor modernistischen Reflexe der Jury zugeschnitten, die dieser Generation eben noch in den Knochen sitzt. Literarische Folter müsste heute eine subtilere Kunst sein; seine Eltern sollte man nur einmal – wie in Becketts „Endspiel“ – effektvoll in die Mülltonnen stecken.

Auch die zweite Preisträgerin Julia Schoch (Preis der Jury, 10000 Euro) überzeugte durch „handwerklich gut gebaute“ Prosa. Das Urteil ist zu respektieren, aber auch hier scheinen die erfolgreichen Bücher der 1974 in Bad Saarow (DDR) geborenen Autorin (zuletzt „Verabredungen mit Mattok“, 2004) das Zünglein an der Waage gewesen zu sein. Ihr Text „Der Ritt durch den Feind“ über eine junge Künstlerin, die sich im schwülen Südamerika ihrer Liebe zu Preußen im Allgemeinen und der märkischen Landschaft in Speziellen versichert, hatte etwas Mattes, Gesuchtes und vor allem wiederum: etwas Tümelndes. Das Brecht’sche, anklagende Pferd von der Frankfurter Allee wird nach Südamerika transponiert, um globale Armut zu anzuzeigen. Schochs Preußen-Sehnsucht hat aber leider nichts von dem rabiaten Glanz des späten Heiner Müller, an den hier wohl angeknüpft werden soll.

Viel überzeugender wirkte da Anne Webers titelloser Text über ein Schweizer Großraumbüro (3sat-Preis, 7500 Euro), eine skurrile Allegorie über die Hierarchien im totalen Kapitalismus und die Metaphysik des Alltags. Dass die 1966 in Offenbach geborene Suhrkamp-Autorin („Besuch bei Zerberus“, 2004) und Übersetzerin sich hier um Aufmerksamkeit garantierende Aktualität bemühte, will man ihr angesichts der eleganten, dezent-humorvollen, essayistischen Prosapoesie kaum vorwerfen.

Der überzeugendste Text – und dabei eine wirkliche Neuentdeckung – war für viele die Liebesgeschichte „Oben, wo nichts mehr ist“ der 1968 in Köln geborenen Werbetexterin Natalie Balkow. Die Autorin, die bislang fast nichts veröffentlichte, erhielt den mit 5000 Euro dotierten Ernst-Willner-Preis. Ihr gelingt es mit einer hochkonzentrierten, nie schnörkelhaften Sprache eine erstaunliche Intensität zu erzeugen. Die Handlung ist quasi buddhistisch schlicht: Isabell, eine junge Sekretärin, begegnet „Hoffmann“, dem arbeitslosen Geologen, der in die Nachbarwohnung eingezogen ist. Diskrete Chiffren zeugen von einer vergangenen, nachwirkenden Transzendenz (oben war früher etwas). Die beiden finden nach einem merkwürdigen Desillusionierungsvorgang zusammen: „Dass er sie anfasst, ist das Letzte, womit sie gerechnet hat und es ist das Einzige, was hilft.“ Ein kleines, aber sehr wertvolles Wunder, wie Natalie Balkow mit einer Liebesgeschichte nach den Liebesgeschichten in Schwarze treffen kann.

Den Publikumspreis, der über Internet ermittelt wird (5000 Euro), wurde dem Deutsch-Bosnier Sasa Stanisic für seine nicht unsympathische Bürgerkriegs-Groteske zugesprochen.

Auffällig an diesem eher mittelprächtigen Jahrgang (abgesehen von Natalie Balkows Debüt) war neben der handwerklichen Solidität die seltsame Neuauflage der bisweilen religiös angehauchten Heimatliteratur: nicht nur bei Schoch, Kuhn und Böldl, sondern auch in dem degoutanten Text von Sabine Schiffner, in dem sich gute Nazis, gute Wilhelminen ein neo-patriotisches Stelldichein geben und zudem krasser Naturkitsch wuchert. Hat Uwe Tellkamp (aktuell: „Der Eisvogel“), der konservativ-revolutionär angehauchte Bachmann-Preisträger des vergangenen Jahrs, womöglich schon Schule gemacht? Sind wir wieder Heimat-Helden? Egal. Denn diese Tendenz ist – zumindest in Klagenfurt – von entwaffnender Harmlosigkeit. Für dieses Jahr gilt die zeitlose Weisheit des beach combers: lieber eine Meeresschnecke in der Hand, als eine Rolex im Kopf.

Marius Meller

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