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Kultur: "Der Gorbatschow-Faktor": Mit zweierlei Maß - Über die verschiedenen Rollen des Michail Gorbatschow

Der Untergang der früheren Weltmacht Sowjetunion ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zweifellos eines der wichtigsten Ereignisse des zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts.

Der Untergang der früheren Weltmacht Sowjetunion ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zweifellos eines der wichtigsten Ereignisse des zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts. Und dieser Epochenwandel wird stets mit dem Namen Michail Gorbatschow verbunden bleiben. Im Westen gilt Gorbatschow bekanntlich als der große Reformer, der mit den Begriffen Glasnost und Perestroika den Anfang vom Ende der Sowjetunion einleitete. Es verwundert insofern nicht, dass Gorbatschow hingegen in Russland selbst oft als Verräter und Ausverkäufer russischer Interessen angesehen wird.

Der Oxforder Politprofessor Archie Brown, international als einer der besten Kenner der sowjetischen Zeitgeschichte gerühmt, hat mit dem vorliegenden Buch ein Referenz-Werk zu jener Umbruchzeit geschaffen, das in dieser inhaltlichen Dichte und sprachlichen Eloquenz derzeit ohne Konkurrenz da steht. In seinem auf insgesamt neun Kapiteln angelegten Werk beschreibt Brown zunächst eindrucksvoll die politische Biographie Gorbatschows, wobei aber auch der Privatmann nicht zu kurz kommt. Vor dem Hintergrund der politischen Situation der siebziger und achtziger Jahre wird so nachvollziehbar, wie sich der junge Protagonist der alten Ordnung allmählich zu dem wandelte, zu dem er historisch wurde: innenpolitisch zum Totengräber eines totalitären Regimes, außenpolitisch zum internationalen Staatsmann und zum wohl bekanntesten Politiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In den weiteren Kapiteln wendet sich Brown dann der Rolle und Bedeutung Gorbatschows in den Politikfeldern Wirtschaft, Verfassungsfrage, Nationalitäten-Politik sowie der Außenpolitik zu. Dabei ist es dem Historiker gelungen, so manches der Öffentlichkeit bislang noch unbekannt gebliebene Motiv für wichtige Entscheidungen in Erfahrung zu bringen. Dass er dabei nicht nur bislang unbekanntes Quellenmaterial auswerten konnte, sondern ihm auch seine zahlreichen persönlichen Kontakte als Berater und Sachverständiger zu Hilfe kamen, hat dem Politik wissenschaftlichen Anspruch des Buches denn auch keineswegs geschadet. Im Gegenteil. Und dennoch: Auch wenn Gorbatschow zweifellos die charismatische Schlüsselfigur dieser Zeit war, so stellt Brown fest, dass die Zeit in der UdSSR eben überreif war für einen Mann wie ihn. Doch dieser Lenker muss eben vorhanden sein. Und dass der Reformer weitaus größere politische Fähigkeiten benötigt, wie der Revolutionär - diese Einsicht formulierte der Politologe Samuel Huntington schon vor dreißig Jahren.

Das vorliegende Werk wurde in seiner englischen Originalfassung unter anderem gleich mehrfach als bestes Politikwissenschaftliches Buch des Jahres 1998 ausgezeichnet. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat verhilft auch jenen Lesern zu einer besseren Einordnung der damaligen Vorgänge, die nicht über entsprechende Vorkenntnisse der Geschichte der Sowjetunion verfügen.

Andreas Schworck

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