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Gut gelauntes Bühnenviech. Peter Kurth verabschiedet sich als „Bahnwärter Thiel“ von Berlin. Zur nächsten Spielzeit wechselt er nach Stuttgart. Foto: Joachim Fieguth

© Joachim Fieguth

Kultur: Der Greis am Gleis

Maxim Gorki Theater: Armin Petras inszeniert „Bahnwärter Thiel“.

Es gibt diese Dateien, „Reste“ genannt. In denen sammelt sich, was von der täglichen Arbeit übrigbleibt, was aus Texten wieder rausgeschmissen wurde, weil es nicht passte, was einem aber trotzdem so wertvoll erscheint, dass man es nicht gleich in den Papierkorb schiebt. Für später. In Wirklichkeit braucht man das Zeug nie wieder. „Reste“-Dateien bilden den Dachboden der Festplatte, in denen die gestrichenen Szenen vor sich hinmodern, von denen man sich nur aus einem Grund nicht trennen will: Sentimentalität.

Gibt es eigentlich Reste-Inszenierungen? Inszenierungen, in die Regisseure – endlich einmal – all das packen, was sonst nirgends unterzubringen war? Zum Beispiel einen sexy Tabledance an Stangen (Regine Zimmermann und Diane Gemsch mit der beeindruckenden Synchronizität von Turmspringerinnen). Oder eine Schauspielerschlacht mit Pflanzenerde inklusive Erdefressen. Oder einen Blutspuckwettbewerb. Oder wunderbar anzuschauende Schattenprojektionen von Wald- und Märchenwesen. Die Videoaufnahmen von flirrendem Herbstlaub nehmen wir auch noch. Und den russischen Film, in denen sich eine Familie so hässlich trennt.

Armin Petras hat für sein disparates Sammelsurium, das da anderthalb Stunden auf der Bühne des Gorki-Theaters vorgezeigt wird, allerdings einen dankbaren Stoff. Gerhart Hauptmann, dessen 150. Geburtstag in diesen Tagen begangen wird, hat das Schicksal des Bahnwärters Thiel in der gleichnamigen Geschichte auf vierzig Seiten zügig abgehandelt. Bleibt also viel Bühnenzeit zu füllen.

Der bodenständige Bahnwärter bekommt mit seiner erste Frau den Sohn Tobias und heiratet nach deren Tod die Bauernmagd Lene. Diese Lene entpuppt sich aber als herrschsüchtige, kaltherzige Wuchtbrumme. Sie reißt den Haushalt an sich, misshandelt Tobias und ist von einer unersättlichen Begierde, die täglich wie ein Gewitter über den gutmütigen Bahnwärter kommt. In der zentralen Traumszene erscheint dem Verzweifelten die Verstorbene, die mit einem Kind im Arm auf die Gleise flieht – eine gespenstische Vorwegnahme des Unfalltods, der dem kleinen Tobias bevorsteht. Am Ende verliert der Bahnwärter den Verstand, tötet Lene und wird in eine psychiatrische Klinik verbracht.

Das Impressionistische, den modernistischen Einbruch des Irrationalen, für den die Novelle berühmt wurde, hat Petras als Einladung zu Willkür, Zusammenhanglosigkeit und ausufernder Illustration verstanden. Aus Hauptmanns Beschreibung Lenes, in der es heißt, sie sei von „brutaler Leidenschaftlichkeit“, werden ungefähr zwanzig Minuten leerlaufender Sexkämpfe zwischen Peter Kurth, Regine Zimmermann und der Tänzerin Diane Gemsch buchstäblich an den Haaren auf die Bretter gezogen. Sobald die beiden Frauen im Prostituierten-Look in dem Holzrahmen erscheinen, den Olaf Altmann hat bauen lassen, und Zimmermann ein paar Takte gossenberlinert, weiß man, gleich geht’s los: Schon schmettern sie sich gegen Wände, reiben animalisch die Stirn an der Wand oder hüpfen dem armen Kurth auf die Hüfte.

Nur wenn’s ruhig wird, weicht der alberne Aktionismus, und Peter Kurth, der mit Petras zur nächsten Spielzeit nach Stuttgart wechselt, hat großartige Momente. Einmal entlockt er dem Lenkrad eines Rennrads Töne und Melodien wie einer Tuba. Einmal bringt er den unsichtbaren Tobias ins Bett und imitiert für ihn auf zu Herzen gehende Weise Tierstimmen. Den Gesang der Lerche, das vom Sohn gewünschte Fisteln einer Schlange oder den sogenannten Schlafwolf. Peter Kurth legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und heult wie ein Wolf den Mond an. Mehr Zärtlichkeit, mehr Verlorenheit geht nicht. So still kann das Irrationale auch einschweben.

Wieder am 21. und 29.11.

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