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Kultur: Der Hahn ist stumm

Für die einen mag es der ersehnte Marthaler / Viebrock-Effekt gewesen sein: Sehr schlecht angezogene Menschen stehen in einem herzzerreißend scheußlichen Ambiente herum (eine Art Gaststätte mit großem Bett und fünf Klavieren), drücken sich die Nasen an schimmeligen Wänden platt, halten mit zerrupften Auerhähnen Zwiesprache, krabbeln unter staubige Teppiche und stehen gerne mal auf dem Kopf. Dieses Publikum bekam in der Arena Treptow, was es wollte, schlug sich bei Auerhähnen und Teppichen feixend auf die Schenkel, honorierte jedes Kopfstehen mit Grölen - ganz gleich, welche Musik dazu gerade spielte und ob Franz Schuberts "Schöne Müllerin", dieses Stationendrama eines tödlichen Liebeswahns, nun zum theatertrefflichen Amüsement einlädt oder nicht.

Für die einen mag es der ersehnte Marthaler / Viebrock-Effekt gewesen sein: Sehr schlecht angezogene Menschen stehen in einem herzzerreißend scheußlichen Ambiente herum (eine Art Gaststätte mit großem Bett und fünf Klavieren), drücken sich die Nasen an schimmeligen Wänden platt, halten mit zerrupften Auerhähnen Zwiesprache, krabbeln unter staubige Teppiche und stehen gerne mal auf dem Kopf. Dieses Publikum bekam in der Arena Treptow, was es wollte, schlug sich bei Auerhähnen und Teppichen feixend auf die Schenkel, honorierte jedes Kopfstehen mit Grölen - ganz gleich, welche Musik dazu gerade spielte und ob Franz Schuberts "Schöne Müllerin", dieses Stationendrama eines tödlichen Liebeswahns, nun zum theatertrefflichen Amüsement einlädt oder nicht.

Für viele andere hingegen stellte das Theatertreffen-Gastspiel des Zürcher Schauspielhauses eher eine avancierte Schubert-Schwundstufe dar: zwanzig Lieder und mehr nach schönster romantischer Tradition von drei Müllerinnen und sieben oder neun Müllerburschen in "lebende Bilder" gepresst - und prompt triumphiert die Musik über jedes Theater. Je verzweifelter Marthaler & Co. sich um Gegenwärtigkeit bemühen, um schmerzliche Nähe durch schmerzhafte Distanz, desto leichtfüßiger verflüchtigen sich Schuberts Illusionen im Volksliedton: ab nach vorn, in die eigene unbescholtene Zukunft. Denn so fabelhaft an diesem Abend musiziert wird (vor allem von den beiden Pianisten, von Markus Hinterhäuser, der auch mitschauspielern und ganz ganz leise mitsingen darf, und Christoph Keller, der die mal nachdoppelnden, mal fragmentarisierenden, immer klugen Arrangements besorgte), so wenig bleibt letztlich in Erinnerung: der verdämmernde, versickernde Schluss vielleicht, der ganz den Frauen gehört, der stolpernde, ächzende Refrain im "Wandern" der nervtötende Celesta-Orgelpunkt in "Die liebe Farbe". Schubert, so scheint es, braucht keinen Marthaler. Aber braucht Marthaler Schubert?

Die Musikwissenschaftlerin Nanny Drechsler hat den Müllerburschen vor ein paar Jahren einen "sanften, geradezu wassersomnambulen Gesellen" genannt. Einen, dem auf Erden nicht zu helfen war, und dem heute, unter uns Zeitgenossen, erst recht nicht mehr zu helfen ist. Denn wer kennt sie schon, die "Schöne Müllerin", jenen Liederzyklus nach Wilhelm Müller auf "Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten", komponiert 1823 und für den lebenskränkelnden Schubert ein atemberaubender Erfolg? Wer wagte es, auf die richtige Reihenfolge der Lieder, auf die Anzahl der Strophen, gar auf die korrekten Tonarten zu schwören? Wer wüsste auf Anhieb und ohne Studium des Zürcher Programmhefts, dass Lieder wie "Nachthelle" oder "Auflösung" zwar ebenfalls von Schubert sind, in der "Müllerin" jedoch nichts verloren haben und also, jedes für sich, ein dramaturgisches Retardieren bedeuten? Und wer - schlimmste aller rhetorischen Fragen! - würde heute frei heraus bekennen, diese und andere Lieder zu lieben, ja sich in der Metaphernwelt klappernder Mühlräder, langhälsiger Mägdelein und böser grüner Jäger unerhört viel lebendiger zu fühlen als im ach so fortgeschrittenen Hier und Jetzt, unter Amokläufern, Selbstmordattentätern und Kinderschändern?

Eines jedenfalls wusste die Musikwelt lange vor Marthaler: Der da wandert und liebt, halluziniert, leidet und stirbt, ist keine romantisch abgekupferte, authentische Figur, kein pausbäckiger Biedermeierling, sondern ein facettenhaft zusammengesetztes, heftig nach Auflösung strebendes lyrisch-episch-dramatisches Ich. "In der Figur des Müllerburschen, des armen, armen weißen Mannes, der nicht gesellschaftsfähig, maskulin und erwachsen werden kann", schreibt Drechsler, "enthüllt sich das lange tabuisierte Männlichkeitstrauma einer bürgerlichen Gesellschaft." Und so stehe denn der Träumer gegen den Tatmenschen, die Laute gegen das Horn, das Wasser gegen den Wald, das so genannte Männliche gegen das so genannte Weibliche. Aufnahmen mit Lotte Lehmann, mit Fritz Wunderlich, Brigitte Fassbaender oder Jochen Kowalski haben von diesen Tiefenschichten Zeugnis abgelegt - jenseits jeder tümelnden Kammersängerei, versteht sich. Und just darauf hat es nun, auf seine Weise, auch Christoph Marthaler abgesehen.

Was aber leistet seine Bühne über einen glückhaften Liederabend hinaus? Zunächst zweifellos das Richtige: Es gibt keine Identifikationsfiguren, nicht den Müllerburschen, die Müllerin und den Bach, sondern es herrschen emotionale Aggregatszustände vor, abstrakte Konstellationen. Und: Alle hier trachten nach ein bisschen Liebe. Der Tenor (sehr idiomatisch und klar: Christoph Homberger), der sich am liebsten schmollend unter sein dickes weißes Federbett zurückzieht; die Sopranistin (Rosemary Hardy), hysterisch darauf bedacht, ihre Sopranistinnenfaçon zu bewahren; die Schauspielerinnen (Altea Garrido und Bettina Stucky), die mit rauen, kehligen Organen singen und nackte Kerle in ihre Spinde kleben; und die Schauspieler, die sich mal rührend piepsstimmig (wie Graham F. Valentine mit "Der Jüngling an der Quelle") zu Wort melden, mal, wie gesagt, mit ausgestopften Auerhähnen reden (Stefan Kurt), oder sich wie zwei an den Schläfen zusammengewachsene siamesische Zwillinge (Thomas Stache, Markus Wolff) durchs Geschehen winden.

Den Schmerz all dieser Vereinsamungsetüden bündelt Marthaler gegen Ende in einem unerschöpflichen Arsenal aus akrobatischen Kunststücken: Pirouetten hoch in der Luft gedreht, heillos verknotete Glieder, Knäuel aus Menschenleibern, krachende Fallstudien - das tut allein beim Zuschauen weh. Das Fatale daran: Es sind immer die Männer, die sich derart vor den Frauen produzieren. Und es sind immer die Frauen, die postwendend die Röcklein heben. So konventionell, so kurz denkt Schubert wahrlich nicht. Trösten wir uns also, bei aller Marthaler-Sympathie, mit seiner Musik - und mit Markus Hinterhäusers wunderbarem Programmheft-Text: "Das Hören (von Liedern) ist ein kollektiver, fast sozialer Vorgang. Wir hören gemeinsam ein Lied, und doch hört jeder für sich sein eigenes Lied, das eigene Leben."

Christine Lemke-Matwey

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