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Kultur: Der heilige Bauer

In allen Formen: Barcelona entdeckt Kasimir Malewitsch als Klassiker jenseits des Suprematismus

Einhundert Jahre sind vergangen, seit Antoni Gaudí mit dem Bau des Wohnblocks „Casa Milà“ in Barcelona begann, an einer der vornehmsten Ecken des Straßenrasters der im späten 19. Jahrhundert angelegten Neustadt. In jenem Jahr 1906 unternahm Kasimir Malewitsch tastende Versuche in der Malerei des Post-Impressionismus und des Symbolismus. So malte er eine Kirche als weiße Vision im Schnee – was für ein Sujet für den späteren Begründer des Suprematismus, der mit der frühsowjetischen AvantgardeKunst gleichgesetzt wird!

Das mittelgroße Gemälde bildet nunmehr den Auftakt zur Malewitsch-Retrospektive, mit dem die finanzkräftige Stiftung der Caixa Catalunya, der katalanischen Sparkasse, das erste Jahrzehnt ihrer Präsenz in der Casa Milà krönt. 1986 erwarb die Stiftung das zwischenzeitlich arg verhunzte Gebäude, zehn Jahre später konnte sie es, vom Keller bis zur spektakulären Dachterassenlandschaft restauriert, als ihr Kulturzentrum der Öffentlichkeit übergeben. Die erste Etage, mit 1300 Quadratmetern einst die Wohnung des schwerreichen Bauherren, dient seither als Ausstellungshalle.

Gaudí, der sich mit zunehmendem Alter in einem immer glühenderen Katholizismus verschanzte, hätte Malewitschs Frühwerk gefallen können. Doch die spirituelle Verwandtschaft reicht tiefer; und auch ohne den Vergleich überzustrapazieren, lässt sich doch sagen, dass die dieser Tage eröffnete Malewitsch-Retrospektive der Fundació Caixa Catalunya in deren Haus, im Volksmund seit jeher nur „der Steinbruch“ genannt, an einem passenden Ort stattfindet.

1912, als die Casa Milà endlich fertig war, malte Malewitsch (1879–1935) im Stil des Neoprimitivismus, der sich stark auf die russische Tradition volkstümlicher Illustrationen bezog. Die große und großartige „Wäscherin“ aus dem Jahr zuvor bildet als private Leihgabe einen der Höhepunkte der Ausstellung, die viel Bekanntes vereint, jedoch erstaunlicherweise immer noch mit nie oder kaum jemals gezeigten Arbeiten aufwarten kann.

Neu in der nicht eben kleinen Reihe von Malewitsch-Ausstellungen, die es seit 1989 gegeben hat, ist das Konzept, das die beiden französischen Kenner Jean Claude Marcadé und Jean-Hubert Martin gemeinsam mit Jewegenija Petrowa als der Hüterin der Malewitsch-Bestände des Russischen Museums St. Petersburg entwickelt haben. Sie zeigen Malewitsch nicht als den Meister des Suprematismus, sondern als einen Allrounder, der unablässig neue Wege beschritt, selbst wenn die für ihn neuen Wege bisweilen ausgetretene Pfade waren. So bei der gegenständlichen Kunst, derer sich der in der Sowjetunion der späten Zwanzigerjahre zunehmend angefeindete Malewitsch erneut bemächtigte, nicht, um der Doktrin des Sozialistischen Realismus Genüge zu tun, sondern um seine ursprüngliche Bildwelt wieder und wieder zu bearbeiten.

Deutlicher als je zuvor zeigt sich in Barcelona Malewitschs Verankerung in der traditionellen russischen Volkskunst. Der Bauer mit gescheiteltem Langhaar, den er 1929 malt, ist Bauer und zugleich Heiliger – zu einem Zeitpunkt, da die bolschewistische Kollektivierung das Bauerntum als Klasse vernichten sollte! Die Kuratoren weisen denn auch auf die Widerständigkeit Malewitschs hin, der immer wieder Elemente der Ikonenmalerei aufgreift und beispielsweise Bauern oder Sportler – Sinnbilder des Körperkultes aller neuzeitlichen Diktaturen – in der Form der Ikonostase, der Wand der Heiligenbilder der orthodoxen Kirche, darstellt. In diesem Kontext tritt in der glänzend ausgewählten Ausstellung das fensterlose „Rote Haus“ von 1932 unmissverständlich als Gefängnis und Symbol des bolschewistischen Zwangssystems vor Augen. 1930 war Malewitsch monatelang als „Konterrevolutionär“ inhaftiert und verhört worden. Danach blieb ihm, der 1935 in Leningrad an Krebs verstarb, nur die Arbeit im Atelier, während er bei allen dennoch gewährten Ausstellungsbeteiligungen mit doktrinären Angriffen wegen „Formalismus“ überzogen wurde.

Breiteren Raum als je zuvor nehmen in der Ausstellung die „Architektone“ ein, jene leicht als Architekturprojekte zu missdeutenden Exerzitien in Dreidimensionalität. Der suprematistische Malewitsch ist der Maler der reinen Flächigkeit, der Farbfelder und -balken, die einander im leeren Weiß der Malfläche begegnen. Emblematisch wurde diese Auffassung im „Schwarzen Quadrat“, jenem Endpunkt der Malerei von 1915, der in Barcelona – wie stets – in der Wiederholung von 1929 zu sehen ist. Danach konnte es nicht weitergehen – und doch hat Malewitsch mit der Verschiebung von Flächen in den Raum hinein zur dritten Dimension zurückgefunden. Dies sind die „Architektone“: hintereinander gestaffelte Flächen im Raum. Dem heutigen Auge, an virtuelle Objekten aus dem Computer gewöhnt, wird die Sensation dieser in Gips geformten Raumskulpturen womöglich nicht bewusst. Sogar in der frühsowjetischen Avantgarde stehen Malewitschs Experimente einzig da.

Nirgends richtete sich Malewitsch auf Dauer ein. Die Abfolge seiner Ausdrucksformen ist schwindelerregend. Auch der Suprematismus blieb Episode. Die Kreativität des Künstlers reichte weit über seine materiellen Möglichkeiten hinaus, wie die wunderbaren Zeichnungen auf kleinformatigem Papier bezeugen. Sie bergen ganze Kompositionen. Dass es um ihn einsam wurde, lässt sich auch ohne Kenntnis der politischen Umstände erahnen. Es ist ein Schicksal, das er mit seinem einzelgängerischen Zeitgenossen Gaudí teilte.

Barcelona, Passeig de Gràcia 92, bis 25. Juni. Täglich 10-20 Uhr, Eintritt frei.

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