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Kultur: Der Kaschmir-Konflikt: Im Grenzbereich

Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan nehmen fast stündlich zu. Beide Seiten haben am Donnerstag erklärt, sie seien auf jede Möglichkeit vorbereitet.

Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan nehmen fast stündlich zu. Beide Seiten haben am Donnerstag erklärt, sie seien auf jede Möglichkeit vorbereitet. So bedrohlich erscheint mittlerweile die Situation, dass die alarmierte Außenwelt in Islamabad und Delhi pausenlos für Zurückhaltung plädiert, allen voran die USA und UN-Generalsekretär Kofi Annan. Seit dreißig Jahren hat es keinen derartigen Truppenaufmarsch an der indisch-pakistanischen Grenze mehr gegeben. Die Regierung in Islamabad hat die Generalmobilmachung angeordnet, höchste Alarmbereitschaft gilt für sämtliche Truppenteile der indischen Armee. Hüben und drüben flüchten die Bewohner der Grenzgebiete in vermeintlich sichere Landesteile. "Wir wollen keinen Krieg. Aber Krieg wird uns aufgezwungen", lamentiert der indische Premier Atal Behari Vajpayee. "Wir sind bereit und werden uns mit allen Möglichkeiten wehren", bellt der pakistanische Militärherrscher General Pervez Musharraf zurück. Beide Staaten haben an der gemeinsamen Grenze Raketen in Stellung gebracht, die mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können. Es ist der Albtraum eines möglichen Atomkriegs, der die Welt aufschreckt.

Aktuell Newsticker: Schlagzeilen aus aller Welt Newsticker: Politik Noch beteuern beide Seiten, dass sie einen solchen Krieg nicht wollen. Indiens Sicherheitskabinett hat es am Donnerstag noch einmal mit diplomatischem Druck versucht, indem es die Größe der Botschaften zurückstufte und der pakistanischen Fluggesellschaft die Überflugrechte strich. Dennoch bleibt die Gefahr eines Atomschlags groß - und zwar durch Versehen. Denn die Nervosität der Militärs, die die Hand am Drücker haben, wächst stetig. Dabei gibt es keine Sicherheitsmechanismen, wie sie selbst in der Zeit des kältesten Kriegs zwischen der Sowjetunion und den USA existierten, die Fehlhandlungen unterbinden könnten. Ja, es gibt nicht einmal ein funktionierendes rotes Telefon. Dreieinhalb Jahre, nachdem sich die beiden tödlich verfeindeten Nachbarn mit ihren Nukleartests offen als Atommächte bekannt haben, haben weder ernsthafte Gespräche über vertrauensbildende Maßnahmen noch zur Verminderung des Risikos eines versehentlichen Atomschlags stattgefunden. Stattdessen kalkulieren beide Seiten mit der Unterkühltheit von Staaten, in denen Menschenleben nicht viel gelten. Die Zahl der möglichen Opfer beim ersten Schlag: 16 Millionen in Bombay, 18 Millionen in Karachi, plus die jeweilige Umgebung - macht summa summarum 50 Millionen. Wegen der geografischen Nähe gibt es praktisch keine Vorwarnzeiten. Grafik: Krisenregion Kaschmir Trostloses Kriegsgebiet

Der erst in letzter Minute schief gegangene Selbstmordanschlag auf Parlament und Regierung in Delhi am 13. Dezember, bei der alle fünf, wie Indien sagt, aus Pakistan stammenden Attentäter und neun indische Parlamentswachen ums Leben kamen, hat zu der dramatischen Eskalation der Spannungen in Südasien geführt. Dass an der provisorischen Kontrolllinie in Kaschmir scharf geschossen wird und dass das umstrittene Territorium ein trostloses Kriegsgebiet ist, ist dagegen nichts neues. Die Zeitung "Indian Express", die eine genaue Statistik des Todes führt, meldete nach dem 11. September erst ein leichtes Abflauen und dann wieder ein Ansteigen des Terrors. Grund: Militante wurden von den Taliban nach Afghanistan zurückberufen. Die nun arbeitslos gewordenen so genannten Heiligen Krieger kehren jetzt zum Endkampf gegen Indien zurück. Die Zahl der wöchentlichen Toten, in der Mehrzahl Zivilisten, liegt dabei unverändert zwischen 50 und 100.

Jahrelang nicht interessiert

Wie so viele schleichende Kriege ohne Ende, hat Kaschmir, ähnlich wie Afghanistan, die Außenwelt jahrelang nicht interessiert. Aber jetzt ist man offenbar etwas aufmerksamer geworden. Das gilt besonders für die Tatsache, dass in Kaschmir mehr als ein Dutzend bewaffnete Organisationen tätig sind, die ihre Basis entweder in Afghanistan oder in Pakistan haben und die vom pakistanischen militärischen Geheimdienst ISI in den Lagern von Osama bin Ladens Organisation Al Qaida ausgebildet wurden. Mehrere dieser Gruppen gehören der Internationalen Brigade bin Ladens an, die den Auftrag hat, weltweit den Kampf gegen die Ungläubigen aufzunehmen und das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. Es sind diese islamistisch fundamentalistischen Gruppen, die sich des 1989 ausgebrochenen Volksaufstands in Kaschmir bemächtigt haben, und die längst ihren eigenen Glaubenskrieg in Kaschmir führen, zum Teil sogar gegen die dortige, kriegsmüde Bevölkerung. Zwei dieser Gruppen waren nach indischen Angaben jetzt für den Anschlag auf das indische Parlament verantwortlich, was von Pakistan als lachhaft und mit der abstrusen Behauptung zurückgewiesen wurde, wahrscheinlich habe Indien selbst das Attentat inszeniert, um einen Grund zu haben, gegen Pakistan losschlagen zu können.

Es war der Abgeordnete Karan Singh, der Sohn des Hindu-Maharadschas von Kaschmir, der 1947 sein mehrheitlich muslimisches Volk der indischen Union und nicht dem neuen Staat Pakistan zuführte, und der damit den Streit um das Land am Himalaja auslöste, der Indiens Regierung am Donnerstag noch einmal dringend beschwor, nur alle diplomatischen Optionen auszuloten. Aber nach drei Kriegen um Kaschmir drängt die indische Öffentlichkeit zunehmend, nun "ein für allemal Schluss zu machen mit der pakistanischen Aggression". Gleichzeitig sinnen die pakistanischen Militärs "auf Rache für 1971". Damals konnte sich Ost-Pakistan mit indischer Hilfe als Bangladesch selbstständig machen. Dass an Kaschmir beide Länder ausgeblutet sind, ja, dass der kostspielige Konflikt sie um fast jede Entwicklung gebracht hat, daran denkt kaum jemand, auch nicht daran, dass Kaschmir nun der ganzen Welt einen furchtbaren Krieg bescheren kann.

Gabriele Venzky

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