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Kultur: Der Kern der Demokratie

Ethik-Unterricht für alle! Das multikulturelle Deutschland braucht gemeinsame Grundhaltungen

Die Reaktion der katholischen und evangelischen Kirchenoberen auf das Berliner Vorhaben, im kommenden Schuljahr den Werteunterricht als Pflichtfach für alle Berliner Schüler ab der siebten Klasse einzuführen, ist scharf. Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, versteigt sich sogar zu der Äußerung, religiös neutrale Lehrer dürften unseren Kindern nicht erklären, was moralisch und unmoralisch sei.

Die bildungspolitische Landschaft sortiert sich in Pro und Contra, und die Kommentatoren in den Feuilletons nehmen Stellung überwiegend als Kritiker einer „Verstaatlichung der Werte“. Die meisten Gegner des Berliner Modells plädieren für eine Wahlmöglichkeit zwischen Religionsunterricht und Werteunterricht (nach dem Muster des Landes Brandenburg). Mir scheint das nicht plausibel zu sein. Ich plädiere für einen allgemein verpflichtenden und konfessionsungebundenen Ethik-Unterricht, der den Religionsunterricht nicht marginalisiert.

Der moralische Orientierungsbedarf in unserer Zeit ist immens. Er umfasst so gut wie alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Generationen. Wie sollen wir mit den neuen Biotechnologien umgehen, wo sind Grenzen der Humanität in der modernen medizinischen Praxis überschritten? Welche Herausforderungen ergeben sich aus einer multikulturellen Gesellschaft, und wie ist diesen zu begegnen? Wie können kulturelle und soziale Rechte in einer sich globalisierenden Ökonomie zur Geltung gebracht werden? Unter welchen Bedingungen dürfen Staaten zu Gunsten von Menschenrechten Kriege führen? Es wäre fatal, wenn diese und andere grundlegende ethische Fragen menschlichen Zusammenlebens im nationalen und internationalen Rahmen sortiert nach der Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften beantwortet würden. Dies würde den Kulturkampf, von dem Samuel Huntington so beredt geschrieben hat, erst heraufbeschwören und ihn dort perpetuieren, wo er schon begonnen hat.

Es ist die Botschaft der europäischen Aufklärung, dass die normativen Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht abhängig von konfessioneller Bindung sind, sondern diese transzendieren. Artikel 1 unseres Grundgesetzes, „Die Menschenwürde ist unantastbar“, wird von den meisten Glaubensgemeinschaften unterstützt. Aber dieses Gebot hat Geltung für alle, auch für diejenigen, die keiner dieser Glaubensgemeinschaften angehören. Wie der globale Menschenrechtsdiskurs zeigt, greift diese Grundnorm des menschlichen Zusammenlebens, des Selbst- und des Fremdverständnisses weit über den christlich-westlichen Kulturkreis hinaus.

Was dieses Land in seiner pluralistischen und multikulturellen Verfasstheit in besonderem Maße braucht, ist das Gemeinsame jener Grundhaltungen, die unsere staatliche und gesellschaftliche Ordnung tragen und die den humanen Kern einer Demokratie ausmachen. Dieses Gemeinsame lässt sich auf die Artikel 1 bis 19 unseres Grundgesetzes, die bürgerlichen Freiheitsrechte, nicht verkürzen. Es umfasst auch Solidarität, Empathie, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft.

Diese Grundhaltungen sind nicht allein das Ergebnis intellektueller Einsichten, sie können nur aus der Praxis, aus der alltäglichen Erfahrung, auch aus dem Vorbild erwachsen. Aber Einsichten spielen eine Rolle, zum Beispiel die Einsicht in die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Kultur, ihres Glaubens. Ein in diesem Sinne verstandener Ethik-Unterricht ist von gleicher Bedeutung wie der in Sprachen oder Naturwissenschaften. Dieser Ethik-Unterricht richtet sich an alle, ohne Ansehung ihres Glaubens.

Ein für alle gemeinsamer und verpflichtender Ethikunterricht ist das absolute Minimum, welches man von den staatlichen Bildungseinrichtungen erwarten kann. Die wichtige Rolle der Glaubensgemeinschaften legt es nahe, auch ihnen im schulischen Unterricht einen angemessenen Platz einzuräumen. Dies könnte etwa mit einem zusätzlichen Wahlpflichtangebot erreicht werden, das konfessionsgebundenen zusätzlichen Religionsunterricht oder – alternativ – konfessionsungebundene Religionslehre vorsieht.

Niemand kann es wohl bei der Vorstellung sein, dass muslimische Jugendliche lediglich im islamischen Religionsunterricht etwas über Werte und Normen erfahren. Auch lässt die offizielle katholische Lehrmeinung, etwa zu Fragen der Sexualmoral, konfessionsgebundene Religionslehrer als wenig geeignet erscheinen, über das Verhältnis der Geschlechter, die Gleichstellung von Mann und Frau oder verantwortliches sexuelles Verhalten zu unterrichten.

In diesen und zahlreichen anderen Feldern zeigen sich die Grenzen einer konfessionsgebundenen Moral. Ein neutraler konfessionsungebundener und weltanschauungsfreier Ethikunterricht ist auch darauf die angemessene Antwort.

Der Autor lehrt Politische Theorie und Philosophie an der Universität München. Von Januar 2001 bis Oktober 2002 war er Kulturstaatsminister.

Julian Nida-Rümelin

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