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Kultur: „Der Krieg war vorbei – und das Leben lag vor mir“

Eine Kindheit im Exil, europäisches Sprachenwirrwarr und Sommerregen in Berlin: Gespräch mit der Schriftstellerin Judith Kerr zu ihrem 80. Geburtstag

In Ihrem autobiografischen Roman „Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl“ erzählen Sie von Ihrer Flucht aus Berlin 1933. Was hat Sie Anfang der 70er Jahre veranlasst, diese Erinnerungen aufzuschreiben?

Ich wollte meinen Kindern erklären, wie das damals war. Meine Tochter liebte ihr Zuhause sehr, und wenn ich von meiner Kindheit erzählte, sah sie immer ganz entsetzt aus und dachte, das muss doch furchtbar gewesen sein. Und ich sagte, nein, es war nicht furchtbar, es war sehr interessant. Ich wollte, dass die Welt etwas über meine Eltern erfährt, denn damals waren die Bücher meines Vaters noch nicht wieder gedruckt.

Anfang 1936 sind Sie von Paris nach London emigriert...

In Frankreich hatten meine Eltern noch alles im Griff. Mein Vater liebte Paris, man kannte ihn, er schrieb für das Pariser Tageblatt. Da hat er noch Geld verdient, auch wenn es am Ende nicht genug war. In England wurde alles schlimmer. Ich wurde älter und merkte, wie sehr meine Eltern unter dem Exil litten. Für meinen Vater muss es unendlich schwer gewesen sein. In England hatte er seine Sprache verloren. Er hatte wenig Freunde, wir hatten keine eigene Wohnung und wohnten in einer Pension.

Von Ihrem Vater zeichnen Sie das Bild eines sehr gütigen Menschen. Was ist Ihre nachhaltigste Erinnerung an ihn?

Ich glaube, das ironische Lächeln. Er hat immer Dinge gefunden im täglichen Leben, die schön waren oder die ihn amüsierten. Er muss sehr gelitten haben unter der Armut. Aber er hatte ein Talent zum Glücklichsein.

Im Exil mussten Sie zwei Mal von vorne anfangen. Wie haben Sie diese Situation bewältigt?

Im Kindesalter ist das nicht so schwer. In Paris sprachen wir zu Hause Deutsch und sonst Französisch. In England konnte ich eine Zeit lang nur dreisprachig reden: Ich fing einen Satz auf Französisch an, dann wurde es Deutsch in der Mitte und Englisch zum Schluss, so dass wirklich nur meine Familie verstehen konnte, was ich sagte. Später habe ich nur noch Englisch gesprochen und das Deutsche langsam vergessen.

Haben Sie das Schreiben an Ihrer RomanTrilogie als eine Art Erlösung empfunden?

Ich fühlte mich furchtbar schuldig, weil meine Eltern es so schwer hatten und ich nicht. Der Krieg war vorbei – und ich 21. Das Leben lag vor mir, und alles war möglich. Ich träumte von meinen Eltern und fand das alles sehr traurig. Nachdem ich darüber geschrieben hatte, ging es mir besser. Aber das war keine Absicht. Es ist nur so gekommen.

Welche Kindheitserinnerungen verbinden Sie mit Berlin?

Da war alles noch so einfach. Es waren wohl die ersten Erinnerungen an Wetter, wunderbar... Einmal hatte es geregnet, es war Sommer, und dann dieser Geruch nach dem Regen... Als ich drei Jahre alt war, hat mein Vater mir Gedichte beigebracht. Ich hab mich immer sehr gern mit ihm unterhalten, auch als ich ganz klein war. Meine Mutter hat alles Praktische gelöst. Ich war ganz sicher, sie kann alles arrangieren.

Wie wichtig war in der Familie die jüdische Religion?

Wir gingen nicht in den Religionsunterricht. Mein Vater hat die jüdische Religion schon mit etwa 20 Jahren aufgegeben. Er fand die jüdische Erziehung und die Feiertage sehr schön, aber er glaubte eben nicht an Gott. Er hat uns schon ganz früh gesagt, dass man sich gut benehmen muss – nicht, weil es einen Gott gibt, der einen beobachtet, sondern weil man sich das selber schuldet.

Haben Sie Trauer darüber empfunden, dass Sie Deutschland verlassen mussten?

Nein, es ist keine Trauer. Nur eine Trauer darüber, was dort geschehen ist. Ich habe doch die Schweiz erlebt, Paris und England. Es wäre schrecklich gewesen, wenn ich das alles vermisst hätte. Jemand hat mich einmal gefragt: „Welchen Einfluss hatte Hitler auf Ihr Leben?“ Und ich musste sagen: „Er war das Beste, was mir passieren konnte.“ Nicht für andere, aber für mich. Ich habe die Nazis nicht erlebt. Es wäre sehr schwer gewesen, das Leben zu lieben und den Menschen zu vertrauen, wenn ich das erfahren hätte, was andere Kinder, selbst Kinder, die herausgekommen sind, erfahren haben.

Gibt es noch etwas in Ihnen, das Sie „deutsch“ nennen würden ?

Es ist die Sprache, obwohl ich jetzt nicht mehr richtig Deutsch sprechen kann. Ich habe immer Häuser gezeichnet in Deutschland. Es waren ja alles erste Eindrücke. Was man am Anfang sieht, davon glaubt man, so ist das, so sieht ein Haus aus, so spricht man. Was nachher kommt, ist erlernt.

Fühlen Sie sich heute als Britin?

Was soll ich sonst sein? Ich lebe seit 68 Jahren hier. Meine Kinder sind Engländer, mein Mann kommt von der Isle of Man und ist ein bekannter Drehbuchautor. Ich bin sehr glücklich geworden in England.

Sie sind in England eine erfolgreiche Autorin von Kinderbüchern, die Sie selbst illustrieren.

Ich habe immer gern für Kinder gezeichnet. Die Kombination von Wort und Bild ist unglaublich interessant. Man kann Teile der Geschichte mit Worten erzählen und Teile mit Bildern. Weil englisch Lesen viel schwerer ist als deutsch, versuche ich nichts zu schreiben, was überflüssig ist. Wenn man sich wichtig machen wollte, würde man sagen: Ein Bilderbuchtext ist beinahe ein Gedicht.

Im vergangenen Jahr haben Sie eine ihrer Kinderbuchfiguren, den verträumten, eigensinnigen Kater Mog, sterben lassen.

Ich habe das Buch eigentlich für mich geschrieben, weil ich jetzt 80 werde, und da denkt man natürlich an den Tod. Und meinen Kindern wollte ich sagen: Erinnert euch an mich, aber „get on with your lives“.

Das Gespräch führte Cornelia Rühle.

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