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Kultur: Der Liederfürst

Besuch bei einem, der die Stille braucht: zum 70. Geburtstag von Aribert Reimann

Aribert Reimann arbeitet nachmittags und bis spät in die Nacht, doch niemals am Morgen. Das war schon 1946 so, als der eben Zehnjährige mit dem Komponieren anfing. Reimann setzt sich also gegen Mittag an den einfachen Arbeitstisch im Obergeschoss seiner Wohnung. Auf der Tischplatte eine inspirierende Melange aus Ordnung und leisem Chaos, Notenpapier, Steine, Notizzettel, ein paar Postkarten, Dutzende gespitzter Bleistifte. Die Klingel ist abgestellt, das Telefon sowieso, beim Komponieren mag Reimann nicht gestört werden. Auch ein Klavier lenkt ihn zu sehr ab, schon gar beim Schreiben für Orchester. Ruhe herrscht hier oben, absolute Stille.

Früh hat Reimann eine präzise Vorstellung von dem, was in einem neuen Stück passieren soll. Einzelne Klangvorstellungen, Melodiebögen kommen plötzlich auf ihn zu, Reimann muss fast nur warten darauf, dann setzt er sich hin. Eben hat er wieder einmal ein Vokalwerk geschrieben, ein Trio für Sopran, Klarinette und Klavier, das Anfang April beim Festival „Heidelberger Frühling“ uraufgeführt wird. Zwei Wochen dauerte es, die fünfzehnminütige Komposition zu schreiben, pünktlich wie geplant ist Reimann dieser Tage fertig geworden. Für den Druck der Partitur bei seinem langjährigen Haus-Verlag Schott ist allerdings nicht mehr genügend Zeit. Die Musiker werden aus dem gestochen fein geschriebenen Autograph spielen müssen.

Es war der Klarinettist Jörg Widmann, der um ein Stück gebeten hatte für eine Besetzung wie in Franz Schuberts „Hirt auf dem Felsen“. Reimann hatte sich sofort ein sechsstrophiges Gedicht als Grundlage vorgestellt, eines, das mit der immer selben Zeile beginnen und Raum für fünf Zwischenspiele lassen würde, in denen die drei verschiedenen Stimmen in allen Kombinationen würden auftreten können. Hatte auf einmal an Rückert gedacht, den Wortespieler und Formenvirtuosen, und war tatsächlich in einem Gedichtband seiner Urgroßmutter fündig geworden – Friedrich Rückerts „O du mein Stern“. Dann ging er an die Arbeit. Wie fühlt sich das an, wenn alles glatt geht mit dem Komponieren? Reimann lächelt. „Dann bin ich der glücklichste Mensch von der Welt.“ Igor Strawinsky habe einmal gesagt, er komponiere allein wegen des Glücksgefühls danach.

Zählen freilich tut Reimann seine Werke nicht. Knapp hundert sind es inzwischen, darunter sieben Opern und mehrere Liederzyklen, wie überhaupt Reimann nicht nur in der Folge seines triumphal gefeierten „Lear“ (1976 - 78), sondern vor allem seiner Lieder und seines pädagogischen Einsatzes für das zeitgenössische Lied wegen berühmt geworden ist. „Ich bin ja dadurch, dass meine Mutter Sängerin und Gesangslehrerin war, mit Liedern groß geworden.“ Schon die frühesten Kompositionen waren Lieder, wenn auch noch für Stimme allein. Erst im Lauf der Jahre kam das Klavier hinzu, auch weil Reimann jahrelang als Liedbegleiter arbeitete.

Ein einziges Wort, eine Gedichtzeile reicht mitunter, um Klänge in ihm wachzurufen. Die Arbeit an „Eingedunkelt“ (1992) nach Gedichten von Paul Celan stieß seinerzeit sogar soviel an, dass Reimann weitere neun Orchesterstücke komponierte. „Es hatte sich so viel Musik in mir aufgebaut.“ Spätestens 1988, mit „Shine and Dark“, entfernte er sich dabei vom gängigen Klavierklang, ließ Saiten manuell bespielen oder zupfen. Mit Freude sieht er nun, dass die junge Generation die Experimente weiterführt, ohne dabei das intime romantische Erbe zu verraten. Von Abwehrhaltung keine Spur: Gerade junge Sänger seien „verrückt darauf, neue Lieder zu bekommen“. Das indessen verdankt sich vor allem Aribert Reimanns Wirken. Heute wird der Liederfürst unserer Zeit siebzig Jahre alt.

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