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Kultur: Der Mann, der sich selbst befreite

Zum 90. des Publizisten Wolfgang Leonhard

Das Buch, das ihn berühmt machte, wollte der Verleger „Die Revolution frisst ihre Kinder“ nennen. Wolfgang Leonhard zog „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ vor – und pflanzte dem Titel des spektakulären Berichts über Kindheit und Jugend in der Welt der kommunistischen Bewegung zwei Essentialien seines Lebens ein. Dass es ihm gelang, dem Stalinismus zu entkommen, und dass er von der Veränderbarkeit des Systems überzeugt war. Das machte Leonhard zu einer herausragenden Gestalt: die Selbstbefreiung von einer totalitären Ideologie und die lebenslange Anstrengung, als Analytiker und Publizist an der Aufklärung und Überwindung dieser Herausforderung der Epoche zu arbeiten.

In der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, eines der großen Themen des 20. Jahrhunderts, ist Leonhard eine überzeugende Stimme gewesen, als Prototyp des politischen Intellektuellen, streitbar, engagiert, aufgeschlossen, nie doktrinär, in faszinierender Unverdrossenheit immer neu interessiert. Die Zahl seiner Bücher, Artikel und Vorträge ist immens, auch die Zahl der Podien, auf denen er saß. Ein unermüdlicher Reisender in Sachen politischer Information und Diskussion, mit dem Eifelort Manderscheid als Ruhepunkt seit einem halben Jahrhundert. Zumal in der Hochzeit des Kalten Krieges war der öffentliche Debattenbetrieb in der Bundesrepublik ohne den lebhaften Mann mit der jugendlichen Mähne nicht vorstellbar.

Und kaum kam der Kommunismus an sein Ende, war Leonhard vor Ort, um den Wandel in Augenschein zu nehmen. Seither hat er nicht aufgehört, sein Thema weiterzuverfolgen – nun vor allem in der Rolle des Zeitzeugen und als fesselnder Repetitor des eigenen Lebenswegs, eines beeindruckenden Kapitels Zeitgeschichte. Leonhard stammte aus dem kommunistischen Uradel – die Mutter gehörte zur Gründergeneration der KPD, er selbst wurde mit zehn Jungkommunist und drückte nach der Emigration in die Sowjetunion die Schulbank mit den Kindern der Parteielite. Ende April 1945 kehrte er als Mitglied der legendären „Gruppe Ulbricht“, der Vorhut der kommunistischen Machtübernahme, nach Deutschland zurück. Er wäre prädestiniert gewesen für eine glänzende Laufbahn im SED-Apparat. Stattdessen öffnete er nach seinem Bruch mit der Partei vielen ein Fenster in die verschlossene Innenwelt einer Bewegung, die fast die Welt regiert hätte.

Die Zeit hat ihm recht gegeben, aber sie hat ihn nicht zum Rechthaber gemacht. Leonhard ist ein streitbarer Kopf geblieben. Inzwischen ist der Beobachter, Analyst und Deuter der Geschichte selbst zu einer Gestalt der Geschichte geworden. An diesem Sonnabend feiert Wolfgang Leonhard, Kronzeuge einer Epoche, deren Erfahrungen und Folgen unsere Gegenwart immer noch mitgestalten, seinen 90. Geburtstag. Hermann Rudolph

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