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Kultur: Der Mann mit der Schere hat immer recht

Damals im Kasperletheater war klar: Wenn der Teufel kam (meistens kam er von rechts), half nur Brüllen. Achtung, Kasper, der Teufel kommt!

Damals im Kasperletheater war klar: Wenn der Teufel kam (meistens kam er von rechts), half nur Brüllen. Achtung, Kasper, der Teufel kommt! Das hat den Kasper und seinen Freund Seppl immer gerettet.Später hat man uns beigebracht, daß es sich nicht schicke, im Theater zu brüllen und eingreifen zu wollen, weil die da oben nicht "echt" seien. Wir sollten im Theater die Klappe halten und uns das Brüllen und Eingreifen (auch "Engagement" genannt) für draußen aufheben. Noch später lernten wir, daß man sich damit nur der Lächerlichkeit, dem Haß oder der Bürokratie ausliefert, und haben das "Achtung, Teufel"-Brüllen auch draußen gelassen. Der Teufel hat sich bei all dem prächtig entwickelt.In dieser Lage befindet sich das Publikum im Stuttgarter Kleinen Haus, wenn es "Gesäubert", das Stück der im Februar im Alter von 28 Jahren freiwillig aus dem Leben geschiedenen englischen Dramatikerin Sarah Kane, sieht. In Martin Kusejs Inszenierung kommt der Teufel alle paar Minuten (nicht immer von rechts), lächelt still und tut etwas Fürchterliches mit den sechs Kasperln und Seppls auf der Bühne. Die lassen sich von ihm alles gefallen, sie unternehmen in Martin Zehetgrubers Räumen, einer grenzenlosen Umkleidekabine aus lichtdurchlässigen und doch blickdichten Glasbausteinen, keine Fluchtversuche, sie helfen ihm sogar bei seinem Werk.Der Teufel, der hier "Tinker" heißt, schneidet an diesem Abend auf einer meist hoch über uns schwebenden Bühne eine Zunge, zwei Arme, zwei Beine, zwei Hoden und einen Penis von einem Kasper namens Carl ab. Die Hoden und den Penis Carls näht er dem weiblichen Kasper Grace an, dem er vorher die Brüste abgeschnitten hat. Er bringt außerdem den Junkie Graham, Graces Bruder, mit einer Überdosis ums Leben. Er treibt den schüchternen Analphabeten Robin in den Tod. Er schneidet Carls Freund Rod die Kehle durch. Kein einziger Zuschauer ruft "Achtung, Teufel" oder sieht so aus, als sei es nötig zu brüllen.Wir sind offenbar weniger vom Kasperletheater geprägt als vom strengen deutschen "Struwwelpeter": Da gibt es den Mann mit der großen Schere, der ohne Federlesens, schnapp, einem störrischen Kind die Daumen abschneidet. Das Kind bekam seine Strafe zu Recht, schmachvoll läßt es die blutenden Daumen hängen. Diese Lektion haben wir uns gemerkt, nicht das solidarisch-optimistische Eingreiftruppengeschrei aus dem Kasperletheater. Der Mann mit der Schere kommt fast immer davon, im Leben und in den Thrillern und Splattermovies dieser Welt. Und da er mehr Aufmerksamkeit kriegt als seine Opfer, hat er, so die unterbewußte Logik, wohl recht.So ist das auch mit Sarah Kanes Tinker. Die Autorin gibt ihm mehr Raum, Sicherheit und Liebe als seinen Opfern. Tinker darf sich am Schluß, da seine Metzelei ihn doch ermüdet hat, mit einer Peep-Show-Tänzerin vereinigen, die ihn aufrichtig liebt.Der englische Dramatiker Mark Ravenhill schrieb in einem Nachruf auf Sarah Kane, der Glaube an die überwältigende Erlösungskraft der Liebe präge "Gesäubert". Es ist wohl auch der bittere Glaube an die überwältigenden Vorteile der Überlebenden gegenüber ihren Opfern, der sich hier formuliert. Dem Tinker so viel Liebesglück zu gönnen, müßte eine Beleidigung unseres Gerechtigkeitsgefühls sein, ist es aber nicht. Wir sind ja alle durch die Struwwelpeter-Schule gegangen, und wir sind alle Überlebende. Vielleicht ist das die Lektion der Sarah Kane: Wer es sich leisten kann, sicher und satt in einem Theater zu sitzen, hat mit Tinker mehr gemein, als er ahnt.Das gilt sogar für Regisseure. Die Neugier des Publikums korrespondiert mit dem Ehrgeiz Kusejs, den coolsten aller Orte schaffen zu wollen: ein Zentrum des Grauens, aus dem man sich nicht wegzappen kann. Wenn in seiner Inszenierung etwas glüht, ist es nicht Liebe, sondern das Notausgang-Schild einer Disco. Anders als Peter Zadeks "realistische" deutsche Erstaufführung in Hamburg, ist die Stuttgarter Inszenierung eine fein stilisierte Hölle: ein Techno-Hades, der seine kulinarischen Seiten hat.Zu Beginn stehen Kusejs Schauspieler schwer und einmütig atmend auf der Bühne wie eine Eliteeinheit vor einem Extremeinsatz. In diesem Theaterplatoon sind die Rollen von Täter und Opfer eher zufällig verteilt: Alle werden sich ausliefern, ins "Verbotene" aufbrechen, (sich) ausziehen, um das Fürchten zu lernen. Möglich, daß dies die Hölle sein soll, in der die immergleiche Geschichte mit verteilten Rollen durchgespielt wird. Am Ende stehen jedenfalls alle, die Nackten und die Toten, in kaum modifizierter Ausgangsformation vor uns.Erstaunlich ist, daß nach Kusejs muskelprotzendem Auftakt und trotz seines herrischen Umgangs mit dem Theaterapparat Szenen entstehen, die Tinker und der Regie Widerstand leisten. Irene Kugler muß sich als Grace weiter in fremde Gefilde vorwagen als alle anderen, und ihre Überwindungsleistung ist nicht forsch spektakulär, sondern hat eine tastende Ehrlichkeit, die ihre Figur prägt. Wenn sie die Kleider ihres toten Bruders anzieht, schlottert sie selbst wie der vom "Cold Turkey" geschüttelte Graham. Christian Brey spielt den Robin als metaphysisches, frierendes Vögelchen, Christine Schönfeld gibt eine keusche, in der Nacktheit untröstliche Erotiktänzerin, Marcus Calvin hält als Carl den Jammer über den Verlust aller Extremitäten im Bereich des Nichtpeinlichen, Anrührenden, Hüseyin Cirpici geht als Rod in makelloser Haltung (an Carls Stelle) in den Liebesopfertod.Und Samuel Weiss darf den Teufel spielen: Er gibt brillant den Tinker als New-English-Cinema-Gentleman, sein Scheitel wie mit Butter gezogen, sein ausdrucksloses Gesicht beherrscht von einem harten Minensuchblick. Die Schwärze seiner Erscheinung und die Souveränität seines Auftritts absorbieren alle Warum-Fragen. Dies ist Tinkers Geschäft, er will nichts anderes und muß sich vor niemandem rechtfertigen! Er könnte insofern sogar als eine böswillige Parodie auf unseren Herrgott durchgehen. Aber nein, er ist bloß ein erbärmlicher Unterteufel: Ab und zu nämlich leistet er sich eine kleine Flucht, rennt in die Peep-Show und läßt die Hosen runter. Da steht er auf der hohen Kasperlbühne, im Techno-Rhythmus masturbierend, spuckend, heißlaufend, jammervoll, ein Märtyrer der Triebe. Dieses eine Mal ist Tinker auf sich selbst und seine Phantasie angewiesen. Und schon versagt er. Das sollte den Kaspern Mut machen.

Wieder am 25. 7. sowie am 16. und 23. 10.

PETER KÜMMEL

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