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Kultur: Der Meister geht voran

Christophe Fricker untersucht Stefan Georges Freundschaftslehre

An wen ist ein Gedicht gerichtet? Gottfried Benns Antwort ist bekannt: Ein Gedicht, meinte er, sei an niemanden gerichtet. Daher sind die Du-Anreden in seinen Versen stets verkappte Selbstansprachen: „Du musst dir alles geben, Götter geben dir nicht“, schrieb Benn 1929, als seine Freundin sich aus dem Fenster gestürzt hatte. Ganz anders ist es mit dem Du bei Stefan George. Es ist echte Ansprache und meint meist ein umworbenes Gegenüber.

Seine Gedichte sind außerdem von der Vorstellung beseelt, dass die Götter auch heute noch geben, und seien es Götter, die der Dichter erschafft: „Dem bist du kind ? dem freund. / Ich seh in dir den gott / Den schauernd ich erkannt / Dem meine andacht gilt“, lauten Verse, die George nach dem Tod des Gymnasiasten Maximilian Kronberger dichtete.

Seine Hingabe an diese Jünglingsfigur, die unverkennbar erotische Züge trägt, gehört zu den Eigenheiten des Georgeschen Werkes, die den Umgang mit ihm hemmen, und wäre Ulrich Raulffs Buch „Kreis ohne Meister“ nicht kurz vor, sondern kurz nach dem Skandal um die Odenwaldschule erschienen, dann hätte der Autor wohl die Wirkung Georges auf die Reformpädagogik neu erforschen müssen.

Es gehört ebenso zu den Eigenheiten Georges, dass seine von Bild und Klang und strenger Form geprägten Gedichte immer wieder den Weg zu Lesern finden, die sich von politischen Verdächtigungen nicht abhalten lassen. Zu ihnen gehört der junge Autor und Germanist Christophe Fricker, der mit seinem Buch sogar noch einen Schritt weiter geht: Er unternimmt er eine Generalverteidigung des Dichters, die nicht nur, wie Adorno, in einem dialektischen Einerseits-Andererseits für einzelne Gedichte wirbt, sondern mit dem poetischen Werk auch die Lehre Georges als Angebot für ein freies Leben im Zeichen der Freundschaft ernst nimmt.

Das lässt aufhorchen und wenn man auch nicht an jeder Stelle folgen kann, so ist Frickers George-Lektüre doch ein engagiertes und frisch geschriebenes Plädoyer gegen eingerastete Sichtweisen und wartet zumeist mit einer klugen und umsichtigen Argumentation auf. Einsichtig ist zunächst, wie Fricker die Poetik Georges im Spannungsfeld zwischen der lyrischen Tradition des 19. Jahrhunderts und den Bewegungen des Naturalismus und der von Mallarmé angeregten Avantgarde verortet.

Georges Mittelweg zwischen einer Fortschreibung alter Muster und einer Verwerfung sprachlichen Weltbezugs beschreibt Fricker luzide, und diese Partien könnten gewinnbringend für eine Diskussion der Gegenwartslyrik sein. Wie sich George, anders als fast jeder andere moderne Dichter, gegen die Kantsche Abtrennung der Ästhetik von der Ethik wendet, schildert er ebenso nachvollziehbar und leitet daraus die Begriffe des Handwerks und der Werkstatt als unentbehrlich für ein rechtes Verständnis von Georges Literatur und Kreisidee ab, mit dem Ziel, der Anrede „Meister“ das Befremdliche zu nehmen: Nicht anders als jeder andere Handwerksmeister sei George seinen Lehrlingen mit gutem Beispiel vorangegangen.

Wenn man das so liest, dann will man es gern glauben und fühlt sich fast schon ins lockere Treiben von Andy Warhols Factory versetzt.

Nicht ganz so unbefangen liest man Frickers Verteidigung leiblicher Nähe bei der Vermittlung von Fertigkeiten und Ideen. Der pädagogische Eros der alten Griechen ist als Konzept für heute eben doch prekär, aber hörenswert sind Frickers Argumente trotzdem, wenn er auf dem Unterschied zwischen zärtlicher Zuneigung und sexuellem Übergriff besteht. Recht hat der Autor auch, wenn er zwischen poetischem Text und biografischer Forschung eine Grenze zieht – Georges Staatsidee steht dann wieder auf einem anderen Blatt.

Es ist eben alles nicht so einfach und bei George schon gar nicht, und das liegt vor allem an den unterschwelligen Misshelligkeiten, die sich seit Georges Tod, erst recht aber seit seiner literarischen Wiederauferstehung unter seinen Lesern und Erforschern abspielen. Um Frickers Buch in seinen stillschweigenden Rippenstößen gegen die Bücher anderer Autoren richtig einordnen zu können, muss man viel gelesen haben und außerdem über die Geschichte des Castrum Peregrini Bescheid wissen – jene Amsterdamer Pilgerburg, in der der von George abgewiesene Enthusiast Wolfgang Frommel während des Krieges flüchtige deutsch-jüdische Internatsschüler vor dem Zugriff der Gestapo schützte und sie durch das Lesen von Gedichten, speziell aus dem „Stern des Bundes“, zu glühenden George-Jüngern erzog, leibliche Nähe inklusive.

Aus diesem Kreis ging eine Zeitschrift hervor, die bis vor wenigen Jahren existierte, und an dieser wirkten zeitweilig sowohl der George-Biograf Thomas Karlauf als später auch Christophe Fricker mit. Während aber Karlauf aus der Amsterdamer Erfahrung den Schluss zog, „Der Stern des Bundes“ sei „der ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“, kontert Fricker mit der provokanten These, der „Stern“ sei „eine Schule der Persönlichkeitsbildung“. Er stellt sich damit in die heute recht einsame Nachfolge seines Mentors Claus Victor Bock, der zu den von Frommel Geretteten zählte und das Leben in der Amsterdamer Herengracht in seinem Buch „Untergetaucht unter Freunden“ beschrieb.

Die Castrum-Peregrini-Leute sind wiederum für Ulrich Raulff unten durch, weil sie ihm für sein Kreisbuch keine Einsicht in von ihnen verwahrte Dokumente gewährten. Raulff rächte sich, indem er die verdiente Zeitschrift totschwieg, zur Strafe taucht er nun ebenso wie Karlauf bei Fricker nur in Fußnoten auf.

Die literaturpolitischen Manöver müssen einem Leser entgehen, der sich mit Frickers Buch eine erste Annäherung an Gedichte Georges erhofft, aber schaden muss das nichts. Georges Gedichte, das hebt Fricker zu Recht hervor, sind vieldeutig und lassen sich nicht von einer Seite vereinnahmen. Jeder liest sie auf eigene Gefahr, zu eigener Erkenntnis und mit eigener Lust. Ein interesseloses Wohlgefallen, so wie Kant sich das dachte, ist ohnehin nicht möglich.

Christophe Fricker: Stefan George. Gedichte für Dich. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 383 S., 29,90 €.

Norbert Hummelt

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