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Kultur: Der Mohr kann gehen

Aufräumen mit einem Mythos: Walter Felsensteins Opernfilme auf DVD

Eine Legende geht um an Deutschlands Opernbühnen. Sie trägt den Namen Walter Felsenstein und wird zuverlässig immer dann beschworen, wenn von modernem Musiktheater die Rede ist. 32 Jahre nach seinem Tod ist der Gründervater von Berlins Komischer Oper zum Schutzheiligen der Opernregie geworden: Kanonisiert durch Foyerbüsten und Gedenkplaketten gilt Felsenstein als derjenige, der mit seiner Forderung nach dem „singenden Menschen“ auf der Opernbühne letztlich die Revolution des Regietheaters in Gang gebracht hat – als Begründer einer Tradition der Werkbefragung, auf die sich heute noch selbst die umstrittensten Regisseure berufen können.

Der Wahrheitsgehalt dieser Legende ließ sich bisher allerdings kaum beurteilen: Schon acht Jahre nach Felsensteins Tod war die letzte seiner Inszenierungen, Mozarts „Figaro“, aus dem Repertoire der Komischen Oper verschwunden, lediglich seine berühmte Version von Offenbachs „Blaubart“ wurde 1992 noch einmal kurz für ein Japan-Gastspiel reanimiert. Die opulent aufgemachte Kassette, in der Arthaus nun ein halbes Dutzend einst für das DDR-Fernsehen aufgenommener Felsenstein-Arbeiten sowie einen schon in den fünfziger Jahren entstandenen „Fidelio“-Film veröffentlicht, füllt daher eine wichtige Wissenslücke: Endlich ist es möglich, sich ohne verklärende Erinnerung vor Augen zu führen, wie dieses Operntheater, von dem damals die Welt schwärmte, wirklich aussah. Und endlich ist es möglich, zu beurteilen, ob nicht auch Felsensteins Vorstellungen von menschlicher Wahrhaftigkeit auf der Opernbühne den Gesetzen ästhetischer Halbwertszeit unterworfen sind.

Wer von diesen Inszenierungen irgendetwas erwartet, das sich nur entfernt mit dem Provokationspotenzial von Opernregie à la Hans Neuenfels oder Calixto Bieito in Verbindung bringen ließe, dürfte allerdings schnell enttäuscht sein: Felsensteins Arbeiten entspringen eben nicht jener kritisch-intellektuellen Distanz zu den Hinterlassenschaften des europäischen Kulturerbes, aufgrund derer die 68er-Generation ihr Verhältnis zur Oper neu definieren sollte. Felsenstein glaubt vielmehr an die Wahrhaftigkeit der erzählten Geschichten. In diesem rein affirmativen Verhältnis zur Gattung Oper ist der 1901 geborene Österreicher eher Repräsentant einer Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg an die unverminderte Relevanz ihres kulturellen Erbes glauben wollte und ihr Heil in einem Kunstbegriff suchte, der mit der eigenen Gegenwart nichts zu tun hatte.

Nachgerade gespenstisch wirkt ein im reichen Bonusmaterial beigegebener Wochenschau-Ausschnitt vom Herbst 1945, in dem zu Beginn der Felsenstein- Inszenierung von Offenbachs „Pariser Leben“ apodiktisch die Herrschaft von Frohsinn, Scherz und guter Laune verkündet wird. Natürlich hat der Mohr in der Inszenierung von Verdis „Otello“ ein schwarz angemaltes Gesicht – jeden Gedanken daran, dass das Außenseitertum dieser Figur vielleicht durch eine andere Chiffre glaubwürdiger zu Geltung kommen könnte, ja dass der schwarz geschminkte Opernmohr längst selbst zum Klischee erstarrt sei, hätte Felsenstein vermutlich mit einem kopfschüttelnden Verweis auf die Vorgaben des Librettos abgetan.

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit ist auch die Füchsin in Felsensteins berühmter Version von Leos Janaceks „Schlauem Füchslein“ ein puschliges Pelztierchen, ist sein Don Giovanni ein Strumpfhosenkavalier mit Mantel, Degen und Spitzbart wie aus dem Opernführer. Verweise auf gesellschaftliche Zwänge und soziale Hierarchien, wie sie Felsensteins Nachfolger Harry Kupfer zum Generalthema seiner Inszenierungen machen sollte, bleiben noch in Felsensteins letzter Opernarbeit, dem 1975 entstandenen „Figaro“, ausgespart. Das artige Gartenbild des Schlussaktes lässt nichts von dem Spannungszustand erraten, in dem sich Mozarts Feudalgesellschaft befindet. Statt hinter die Kulissen zu blicken, lieferte der geehrte Staatskünstler Felsenstein sozusagen hundertprozentige Libretto-Planerfüllung in größtmöglicher handwerklicher Präzision – eine Art Musiktheater, das die DDR nicht nur weltweit auf Gastspielreisen schicken, sondern auch bedenkenlos in Gestalt von aufwendig produzierten Opernfilmen einem breiten Publikum vorführen konnte.

Die enthusiastische Kritik, die Felsensteins Arbeit in den sechziger Jahren in Ost und West erntete, zeigt mithin vor allem, dass der Begriff einer werkkritischen Regie damals noch überhaupt nicht vorhanden war und dass die vielfältigen Ansätze, die es dazu in der Weimarer Republik – etwa an der Berliner Krolloper – gegeben hatte, offenbar gründlich in Vergessenheit geraten waren. Die Sorgfalt, mit der Felsenstein beispielsweise in seiner 1970 verfilmten Inszenierung von „Hoffmanns Erzählungen“ die drei Liebesepisoden auf die Figur der Sängerin Stella zurückführt, und die Akribie, die er auf die Ensembleszenen in Lutters Keller verwandte, galten damals als Gipfel psychologischer Opernregie.

Die aus heutiger Sicht plakativen Rollenbilder schienen damals niemanden zu stören, ebenso wenig der verkrampfte Übermut, mit dem die Chorsolisten sich als muntere Studenten gerieren. Ähnlich der Jago in Felsensteins ein Jahr zuvor entstandener „Otello“-Verfilmung: Heute würde sich vermutlich niemand mehr trauen, diese Figur so bedenkenlos als spinnenhaften Bösewicht darzustellen. Gerade an solchen Stellen ist die Diskrepanz zwischen den überkommenen Vorstellungen, denen offenbar auch Felsensteins Theaterästhetik stark verpflichtet war, und der Genauigkeit, mit der er sich bemühte, durch eine eigene, wortgetreue Übersetzung des Librettos ein differenzierteres Charakterbild des Schurken zu zeichnen, deutlich merkbar.

Dass gerade diese klischeehaften Seiten von Felsensteins Theater heute so frappierend ins Auge fallen, zeigt freilich auch, wie erfolgreich seine Bemühungen um realistische Darstellungsweise offenbar waren. Dass Sänger sich auch als Darsteller verstehen, ist in den letzten 40 Jahren nicht nur selbstverständlich geworden, auch die Ansprüche sind gewaltig gestiegen – ebenso wie man heute an jedem Stadttheater Verdi-Opern nicht in den kruden Übersetzungen spielt, gegen die Felsenstein anging, sondern lieber gleich im (übertitelten) Original.

In der Absicht, jedes Stück nur aus sich heraus zu erklären, taugt Felsenstein nur bedingt zum Ahnherrn des Regietheaters – in diesem Ansatz sind seine Arbeiten eher mit denen des Wieners Otto Schenk vergleichbar, der längst als Antipode gegenwartsbezogenen Musiktheaters gilt. Schon der Vergleich zwischen den Felsenstein-Filmen und Ruth Berghaus’ 1968 für die Berliner Staatsoper entstandener und dort immer noch gezeigter Inszenierung von Rossinis „Barbier von Sevilla“ zeigt, dass der Paradigmenwechsel hin zu einer Opernregie, die ihre Gegenwart durch bewusste Stilisierungen und die Schaffung zusätzlicher Bedeutungsebenen kenntlich macht, bereits zu Felsensteins Lebzeiten eingesetzt hatte.

Durch das Spiel mit den Figuren der Commedia Dell’Arte, aber auch durch die Stilisierung von Rossinis Barbier zum selbstbewussten Proletarier wirkt diese Arbeit viel zeitloser als Felsensteins Realismus, der letztlich meist doch nur Klischees produzierte. Wer die Ursprünge der Opernregie als emanzipierter, vom Zwang bloßen Werkbedienens losgelöster Kunstform sucht, wird eher hier, bei der nicht ohne Grund lange umstrittenen Berghaus fündig. Zumindest könnte man an der Behrenstraße mal eine Büste von ihr aufstellen.

Jörg Königsdorf

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