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Kultur: Der Morgen stirbt nie

Das Mahler Chamber Orchestra, Berlins unsichtbarstes Spitzenensemble, feiert sein zehnjähriges Bestehen im Berliner Techno-Club Berghain

„Wenn James Bond ein Orchester hätte, wäre es sicher das Mahler Chamber Orchestra“, schwärmt Daniel Harding. Okay, der britische Dirigent ist befangen, wenn es um das Ensemble mit Sitz in Berlin geht – schließlich ist er seit 2003 künstlerischer Leiter dieser Musikertruppe. Doch auch die Zahlen sprechen für sich: Die 48 Mitglieder des Ensembles kommen aus 19 Ländern, haben in den vergangenen zehn Jahren in 82 verschiedenen Städten auf drei Kontinenten gespielt und dabei mit ihren Instrumenten zusammen gut 14 Millionen Kilometer zurückgelegt.

Da geht manchem schon beim Lesen die Puste aus. Die Musiker des kosmopolitischen und von staatlichen Subventionen unabhängigen Orchesters lieben diesen schnellen Rhythmus. „Natürlich ist es anstrengend“, sagt die 28-jährige Geigerin Henja Semmler, „aber neue Städte zu entdecken und sich auf die Gegebenheiten immer neuer Spielorte einzustellen, ist eine wahnsinnige Herausforderung. Für uns gibt es eigentlich keinen Alltag, sondern nur die Freude am Musizieren.“

Gerade aus New York nach Berlin zurückgekehrt, wo sie im Oktober mit dem Mahler Chamber Orchestra in der Carnegie Hall aufgetreten ist, ging es in der letzten Oktoberwoche weiter ins italienische Ferrara. Dort startete die Tournee zum 10-jährigen Jubiläum, auf der das Kammerorchester nach Stationen in Köln und Frankfurt/Main am 8. November nun auch in Berlin gastiert. Dass das Ensemble nur selten hier zu erleben ist, liegt an einer Spezialität des Berliner Musikbetriebs. Das auf seine Ticketeinnahmen angewiesene Orchester kann sich Auftritte an seinem offiziellen Stammsitz kaum leisten: Das Preisniveau hier ist zu niedrig.

Zwischen all den Konzerten organisiert Henja Semmler ihren Umzug von Heidelberg nach Berlin. Wenn ihr Terminkalender zu voll ist, dann streicht sie im Zweifelsfall private Verabredungen, denn die Konzertvorbereitungen haben für sie Priorität. Stundenlang übt die Musikerin diffizile Passagen, in ihrer frisch sanierten Ein-Zimmer-Dachgeschosswohnung in der Nähe des Savignyplatzes.

Semmler war schon bei der Gründung dabei, als das Mahler Chamber Orchestra 1997 mit Unterstützung von Claudio Abbado und seinem damaligen Assistenten Daniel Harding aus dem Gustav-Mahler-Jugendorchester hervorging. Die jungen Musiker wollten auch nach ihrer altersmäßig begrenzte Zeit bei dem Nachwuchsensemble weiter zusammenarbeiten. Die damals 17-Jährige war das jüngste Mitglied und lernte gerade fürs Abitur. Inzwischen hat sie ihr Geigenstudium abgeschlossen, widmet sich ganz dem Orchester sowie dem Oberon Klaviertrio, das sie mit zwei Freunden im vergangenen Jahr ins Leben gerufen hat.

Die Geigerin arbeitet gerne als Freischaffende, um „die Musik zu spielen, die mich technisch und emotional fordert“. Eine Haltung, die sie mit den meisten ihrer Orchesterkollegen teilt. Auf die Sicherheit einer Festanstellung in einem staatlichen Orchester verzichten sie zugunsten der künstlerischen Freiheit. Dabei lässt sich das Engagement für das Kammerorchester gut mit der Klaviertrio-Arbeit vereinbaren, denn die Musiker entscheiden selbst, wann, wo und wie oft sie spielen wollen. Bezahlt wird projektweise. Zu Konzerten reisen sie aus allen Winkeln der Welt an, proben gemeinsam, treten zusammen auf und verabschieden sich bis zum nächsten Mal.

Die Konzert- und Tourneeplanung übernimmt das Berliner Orchesterbüro, das auch die Noten verschickt und sich um die Finanzierung kümmert. Keine leichte Aufgabe, denn das Orchester muss sich mit Hilfe von Mäzenen und Sponsoren selber tragen. Intendant Andreas Richter meint optimistisch: „Das Mahler Chamber Orchestra ist für die kommende Saison komplett ausgebucht. Ich hätte doppelt so viele Konzerttermine ausmachen können.“ Gesichert ist die Finanzierung vor allem dort, wo die Musiker regelmäßig gastieren, in Ferrara, Landshut und Baden-Baden sowie auf den Festspielen in Salzburg, Aixen-Provence oder Luzern, wo das Orchester im August traditionell die Basis für das von Claudio Abbado geleitete Lucerne Festival Orchestra stellt. Schwieriger ist es, Sponsoren für die kostspieligen Konzertreisen – 2008 unter anderem nach Norwegen und Israel – zu finden.

Das Programm bestimmen die Musiker immer selbst. Es reicht von den Klassikern bis zu zeitgenössischen Kompositionen, von Kammermusik bis zu großen Opernproduktionen. Schon ein Jahr nach seiner Gründung gab das Orchester unter Claudio Abbado mit Mozarts „Don Giovanni“ in Aix-en-Provence sein Musiktheaterdebüt. Seither kamen „Eugen Onegin“, „Die Liebe zu den drei Orangen“ und „Cosi fan tutte“ hinzu. Im April 2008 wird das Orchester mit Abbado im italienischen Reggio Emilia Beethovens „Fidelio“ aufführen.

„Wir wollen immer wieder neue Werke und neue Orte ausprobieren“, sagt Henja Semmler. Dieses Selbstverständnis des Ensembles ist gleichzeitig sein Erfolgsrezept. Kein Zufall, dass es als erstes Orchester überhaupt in einem Berliner Club spielt. Im Rahmen der „Yellow Lounge“-Konzerte, die von der Plattenfirma „Deutsche Grammophon“ organisiert werden, treten die Musiker am Donnerstag zusammen mit dem dirigierenden Geigenvirtuosen Kolja Blacher im Techno-Club Berghain in Friedrichshain auf. Für die Berlinerin Henja Semmler ein Heimspiel.

Einlass am 8. 11. ab 21 Uhr im Club Berghain am Wriezener Bahnhof. Karten für 5 Euro, nur Abendkasse. Infos: www. Mahler-chamber.de und www.yellowlounge.de

Karin Erichsen

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