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gta

© Rockstar Games

Videospiele: Der Pate im Pixelland

Videospiele sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen: vom virtuellen Wahnsinn des Megasellers "Grand Theft Auto". Games ersetzen das Kino nicht, aber sie verändern es.

Niko Bellics neues Leben beginnt, wie sein altes aufgehört hat: mit einer Enttäuschung. Sein Cousin Roman hatte ihm von einer Villa vorgeschwärmt, in der er nun wohne, abholen würde er ihn in einer Limousine am Hafen von Liberty City. Doch als Nikos Schiff anlegt, stehen vor ihm nur die ersten von vielen Lügen, denen er in den nächsten Monaten begegnen wird: ein altes, verbeultes Taxi und daneben ein verschwitzter Roman, in dessen Augen zwar die Wiedersehensfreude glänzt – aber auch eine Ahnung davon, dass dies für lange Zeit das einzige sein wird, was in Amerika glänzen wird für den serbischen Einwanderer.

Der hat seine Heimat verlassen, weil er den Krieg in Jugoslawien vergessen wollte. Sein Gesicht ist hart geworden in den Jahren, als sein Körper eine Waffe war. In Liberty City soll ein neuer Niko geboren werden, der abgeschlossen hat mit Krieg und Gewalt. Doch schnell erfährt der Serbe, dass Gewalt auch in Amerika ein Werkzeug ist für die, die unten sind und nach oben wollen.

So die Kurzfassung des für 100 Millionen Dollar in den USA und Schottland entwickelten Videospiels „Grand Theft Auto IV“ (GTA). Man könnte noch lange weitererzählen von der Welt, die sich dem Spieler eröffnet – aber schon der Beginn lässt erahnen, dass es sich um ein besonderes Spiel handelt. Sein kommerzieller Erfolg hat sogar jene aufhorchen lassen, die kulturelle Relevanz nicht an Verkaufszahlen messen: Am ersten Tag, an dem „Grand Theft Auto IV“ in den Regalen stand, wurde es weltweit 3,6 Millionen Mal verkauft. Nach der ersten Verkaufswoche waren es mehr als sechs Millionen, das entspricht einer Einnahme von rund einer halben Milliarde Dollar. Und das, obwohl „Grand Theft Auto IV“ ein Spiel für Erwachsene ist – hierzulande darf es erst an Kunden ab 18 Jahren verkauft werden, in den USA ist es ab 17 freigegeben. GTA spielen also nicht nur Teenager, sondern Arbeiter und Angestellte, Studenten oder Manager. Den Mittelstand zieht es nach Liberty City, mit dem Älterwerden der Generation „Pong“ (die erste mit Homecomputern sozialisierte) sind Videospiele mitten in der Gesellschaft angekommen.

Jedes erfolgreiche Kulturprodukt bedient Sehnsüchte. Bei GTA sind das: Grenzüberschreitung, Freiheit und gesellschaftlicher Aufstieg. Alle, die nun auf ihrer Playstation 3 oder Xbox 360 „Grand Theft Auto IV“ spielen, können als Niko Bellic Dinge tun, die sie im normalen Leben niemals wagen würden: Sie klauen Limousinen, Motorräder oder gar Schiffe und Hubschrauber, liefern sich Schusswechsel mit der Mafia oder Verfolgungsjagden mit der Polizei, kaufen großkalibrige Waffen in dunklen Kellern und treiben Dollars für Geldhaie ein – so lange, bis die ganze New York nachempfundene Stadt den Namen Niko Bellic kennt.

Dabei ist das Spiel keinesfalls banal, es steckt voller Anspielungen und Gesellschaftskritik. „Was bedeutet der amerikanische Traum heute?“, das ist die große Frage, an der es sich unterhaltsam abarbeitet. Die Spieler durchleben eine hervorragende, unter Aufbietung aller dem Medium zur Verfügung stehenden Mittel erzählte Geschichte voller Komik und Tragik, angesiedelt irgendwo zwischen „Der Pate“ und „Es war einmal in Amerika“. Der größte Unterschied zum Kinofilm ist dabei, dass das Publikum selbst im Mittelpunkt steht.

Dabei ist GTA zwar einerseits ein typisches Videospiel, das Fingerfertigkeit und Timing erfordert, andererseits spielt es keine Rolle, wenn der Spieler nichts tut, was die Story vorantreibt. Das ist eine weitere Qualität: GTA stellt Präsenz her. Selbst für routinierte Videospiel-Fans ist es eine unvergessliche Erfahrung, in Liberty City „vor Ort“ zu sein.

Die meisten Videospiele sind zu hundert Prozent auf die Aktivität des Spielers ausgerichtet: Sie warten ab, bis er etwas tut, um dann auf ihn zu reagieren. Schieß auf mich und ich schieße zurück. In Liberty City geht das Leben auch ohne den Spieler weiter. Man kann viel Zeit damit verbringen, einfach nur „da“ zu sein, an einer Straßenecke zu stehen und zu beobachten.: Junge Leute mit Kaffeebechern in der Hand stehen in Gruppen beieinander, nebenan werden Hotdogs verkauft, Obdachlose betteln, die Hochbahn fährt vorbei. Wenn es regnet, spannen die Passanten ihre Schirme auf.

Von Zeit zu Zeit gibt es an der Kreuzung einen Unfall oder eine Schießerei – dann laufen alle zusammen (oder weg), und nach ein paar Minuten rasen die Ambulanz oder die Feuerwehr mit Blaulicht an. Niko Bellic kann sich auch in ein Taxi setzen und herumkutschieren lassen, während draußen die Stadt vorbeizieht. Hier wird GTA zum Sightseeing und nähert sich dem Filmgefühl an, bleibt aber dennoch ganz Spiel. Denn schließlich kann Bellic jederzeit aussteigen.

Diese Illusion von Präsenz in einem virtuellen Raum wird noch perfekter, wenn der Spieler in Interaktion tritt – wenn er zum Beispiel die Jugendlichen mit den Kaffeebechern erschreckt. Dann lassen sie ihre Becher fallen und beschimpfen Bellic. Passanten mischen sich ein, und am Ende kann es eine Massenschlägerei geben, muss es aber nicht.

GTA sagt: Du musst hier nichts tun, aber wenn du etwas anstellst, hat das Konsequenzen. Welche? Wirst du sehen. Eine derart offene Erzählweise hat es in einem Videospiel in dieser Qualität noch nie gegeben.

Die Spannung von GTA ist immens. Filme können auf diesem Gebiet kaum konkurrieren. Womit sich die Frage aufdrängt, ob Videospiele im Begriff sind, dem Kino den Todesstoß zu versetzen. Die Antwort lautet: Nein, trotz der vielen Millionen Menschen, die mit „Grand Theft Auto“ ihre Freizeit verbringen. Videospiele sind nicht das neue Kino, und werden es hoffentlich auch nie sein. Aber sie beeinflussen den Film derzeit ähnlich, wie der Musiksender MTV in den Achtzigern mit seinen schnell geschnittenen Videos den Film beschleunigt und fragmentiert hat.

Der Aufbau vieler Blockbuster-Filme ähnelt schon heute dem eines Videospiels: Die Handlung ist zersplittert in Akte, die Leveln in Spielen gleichen. Die fortschreitende Verbesserung der Digitaleffekte im Film führt zur optischen Angleichung. Und natürlich nimmt Hollywood das Videospiel ernst – nicht umsonst haben Samuel L. Jackson, Dennis Hopper und Burt Reynolds Charakteren der vorangegangenen GTA-Teile ihre Stimmen geliehen. „Resident Evil“ und die Lara-Croft-Filme sind Beispiele erfolgreicher Videospielverfilmungen.

Spiele-Programmierer können sich von mehr als hundert Jahren Film zwar einiges abschauen, wenn es darum geht, eindringliche Geschichten zu erzählen und Emotionen zu wecken – aber eine dem Medium angemessene Umsetzung müssen sie schon selber finden. Die Videospielgeschichte ist noch relativ jung, und erst langsam zeigt sich das Potenzial des Mediums als ernst zu nehmendes Kulturgut. Doch „Grand Theft Auto IV“ ist ein Riesenschritt in eine vielversprechende Zukunft.

Noch dazu macht die Computertechnik Fortschritte. Die ständig wachsenden Rechnerkapazitäten ermöglichen noch beeindruckendere Effekte und realistischere Welten. GTA setzt einen hohen Standard, andere Spielemacher werden sich daran orientieren. So wird Niko Bellic’ Aufsteigertraum letztlich wahr: An ihm kommt jetzt keiner mehr vorbei.

Sven Stillich

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