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Kultur: Der Pfeil der Schönheit

Tilmann Buddensieg reist mit Friedrich Nietzsche durch Italien

Dass Friedrich Nietzsche von bildender Kunst keine Ahnung gehabt habe, dass er als Banause durch Italien gereist sei, blind für den Kunst-Reichtum um sich herum, dass er überhaupt im südlichen Musenland mehr als unglücklich gewesen sei und seine Krankheit schließlich auch an den unguten Umständen dort zum Ausbruch gekommen sei, solches ist gängige Übereinkunft der Nietzsche-Forscher nicht erst seit Thomas Mann. Der Berliner Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg, als erklärter Nietzsche-Kenner und -bewunderer prädestiniert wie kaum ein anderer für das Thema, wagt den Widerspruch und folgt seinem Helden Station für Station durch den sonnigen Süden, sucht sich aus den verstreuten Noten und Notizen, Fragmenten und Aphorismen Nietzsches die Schlüsselstellen zusammen, die belegen sollen, dass der Philosoph in Italien zu einer neuen Form des Sehens, ja des Lebens fand.

Das beginnt beim ersten, fluchtartigen Besuch in Neapel und Sorrent, wo Nietzsche nach neunjähriger ermüdender Lehrtätigkeit in Basel die „Moosschicht“ seines Lebens anhebt und vom „langsamen Pfeil der Schönheit“ getroffen wird. Touristisches Sightseeing jedoch war seine Sache nicht, weder in Neapel noch später in Genua, Venedig, Rom oder Turin. Zu passiv, zu fremdbestimmt war ihm die Baedecker-bewehrte, Burckhardt-geschulte klassische Bildungstour. Sein Ideal des zufälligen Getroffenwerdens vom Kunstwerk ließ mit der Verwirklichung oft lange auf sich warten und fand, wenn denn überhaupt, häufig nicht vor den großen Meisterwerken der Kunst statt: Nicht Genuas Gemäldegalerie, sondern die Gärten und der Friedhof in Staglione, nicht Venedigs Kunstschätze, sondern die Tauben von San Marco, nicht die römischen Ruinen, sondern der Triton-Brunnen auf der Piazza Barberini und nicht die Uffizien, sondern der Palazzo Pitti in Florenz berühren ihn. Sein entscheidendes Kunsterlebnis schließlich wird ein zeitgenössisches sein: Die Galleria und die Mole Antonelliana in Turin, Bauwerke des beginnenden Industriezeitalters, die er „Ecce Homo“ tauft.

Zimmer für einen Exzentriker

Es sind die Spuren eines exzentrischen Reisenden, denen Buddensieg folgt. Ein angenehmer Reisegenosse ist Nietzsche ganz sicher nicht gewesen: kränkelnd, anspruchsvoll, leicht verletzt. In Nizza leidet er darunter, angesichts der Nobelherbergen an der Seepromenade nicht angemessen untergebracht zu sein und ergötzt sich an einem Erdbeben, das alle anderen Touristen in Angst und Schrecken versetzt. In Venedig erwartet er von seinem Freund, Heinrich Köselitz, ihm ein Zimmer, „das für mich passt“, zu schaffen. Denn was seine Wohnungen angeht, hat der Philosoph genaue Vorstellungen: Hoch müssen die Räume sein, offen der Blick, und die Einrichtung ist mit bequemem Lehnstuhl, Teppichen und dunklen Tapeten genau vorgegeben. Dass er in Venedig hinter einem Paravent lebt, in Genua unter dem Dach, schreckt ihn hingegen nicht, anspruchsvoll ist er nur in seinen Vorstellungen, nicht in der tatsächlichen Umsetzung.

Buddensieg hat die Orte aufgesucht, an denen Nietzsche lebte, hat sie klug den Texten gegenübergestellt und seine Vorstellungen der Reduktion, des „Wegtuns“ von störendem kirchlichen Ornat geweitet in eine Ästhetik der Reduktion von Mies van der Rohe bis Yves Klein.

Sicher, es ist ein Randaspekt des Nietzsche’schen Universums, den Buddensieg erforscht. Aber wie er es tut, verrät doch viel über die Arbeit des Philosophen und dessen erratische Weltsicht. „Es gibt keinen besseren Freund Italiens als mich“, hat Nietzsche im Dezember 1888 in Turin geschrieben. Und keinen besseren Nietzsche-Freund als Buddensieg.

Tilmann Buddensieg: Nietzsches Italien. Städte, Gärten und Paläste. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002. 250 Seiten, 29,50 €.

Christina Tilmann

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