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Wenn es um Musik geht, ist Maurizio Pollini Kosmopolit. Leben aber möchte er nur in Mailand.

© Bothor/Deutsche Grammophon

Der Pianist Maurizio Pollini: Wer fühlen will, muss hören

Für die Musik seiner Zeit hat sich Maurizio Pollini immer interessiert. Jetzt kommt er mit zwei Programmen nach Berlin, in denen er Beethovens späte Klaviersonaten mit modernen Kompositionen kombiniert.

Wenn es regnet in Mailand, und es regnet hier häufiger, als es dem Italienreisenden aus dem Norden lieb sein kann, schaut man besser genau hin, wo man langläuft. Denn dann bilden sich überall auf den unerwartet unebenen Trottoirs tückische Wasserlachen, in die der Besucher – pitsch! – hineintappt, wenn er sich von den auch bei diesem Schietwetter elegant gewandeten Passanten oder den Auslagen der Designergeschäfte ablenken lässt. Triefenden Schuhs biegt er also in die Gasse gleich beim Domplatz ein, in der Maurizio Pollinis Wohnung liegt, schlängelt sich im Schutz jener Metallbügel, die in den bürgersteiglosen Nebenstraßen der Altstadt den Fußgängern ein Laufstreifchen abzwacken, vor bis zur angegebenen Hausnummer. Der Name des Pianisten steht nicht auf dem Klingelbrett, seine Gäste müssen dort drücken, wo eine rätselhafte 8 steht.

Dann aber wird ihnen aufgetan, das heißt, sie hören den Türsummer schnarren, drücken gegen das gigantische Eingangstor – und es öffnet sich darin ein winziges Türchen, ein Einschlupf, so niedrig, dass sich selbst klein gewachsene Italiener bücken müssten. Ein leichtes Alice-im-Wunderland-Gefühl stellt sich ein. Und tatsächlich: Wie so oft bei Mailänder Palazzi entfaltet sich die Pracht ausschließlich nach innen. Hinterm Säulengang mit Kreuzrippengewölbe öffnet sich ein weiter Hof, von gelben Fassaden setzen sich hellgrau gestrichene Fensterläden edel ab, es gibt sogar eine Portiersloge. Die ist jetzt allerdings gerade unbesetzt.

Während der Besucher noch zögert, welchen Eingang er ansteuern soll, kommt rechterhand schon Maurizio Pollini eine breite Treppe herunter, wie immer formvollendet gewandet, mit dezent gemusterter Krawatte zum blauen Hemd unterm Pfeffer-und-Salz-Jackett. Allein die weichen Slipper an den Füßen verraten, dass er sich in heimischer Umgebung bewegt. Freundlich bittet er den Gast die Prachtstiege hinauf, in der ein gigantischer, goldglänzender Barockspiegel den Blickfang bildet. Hinter der stahlbewehrten Wohnungstür öffnet sich eine veritable Enfilade von Sälen, alle mindestens fünf Meter hoch. Ein Flügel ist nicht zu sehen, dafür um so mehr Bücher, in Regalen, auf Tischen, Stühlen und Fensterbrettern. Die Wände sind mit architektonischen Zeichnungen gepflastert, angefertigt und gezeichnet mit feinem Bleistiftstrich von Pollinis Vater, der in den 30er Jahren seine Landsleute für die Ideen des Bauhauses zu begeistern versuchte.

1942 wurde der Pianist in eine Mailänder Künstlerfamilie hineingeboren, niemals hat er in einer anderen Stadt gelebt. 1968 wurde er hier getraut, hier ist der einzige Sohn Daniele aufgewachsen, seit Ewigkeiten schon bewohnen die Pollinis ihre noble Palazzo-Etage. Lange hatte der vielseitig interessierte Teenager Maurizio gezögert, das Klavierspielen zum Brotberuf zu machen, nach seinem spektakulären Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 1960 studierte er ein paar Jahre weiter, bevor er sich der Weltkarriere hingab, bis heute immer geplagt von Lampenfieber und dem Bewusstsein, dass ein selbstkritischer Künstler sein ganzes Leben mit den Meisterwerken zubringen kann, ohne je das Gefühl zu erleben, sie voll durchdrungen zu haben.

In den siebziger Jahren bildete er mit dem Dirigenten Claudio Abbado und dem Komponisten Luigi Nono ein legendäres, linksintellektuelles Triumvirat, das die Hochkultur unbedingt unters Volk bringen wollte. Sie traten in Fabriken auf, verlasen vor ihren Auftritten Manifeste gegen den Vietnamkrieg. Auch jetzt, als feiner alter Herr, ist Maurizio Pollini politisch noch hochinteressiert. Und darum von der Wiedergeburt des überwunden geglaubten Silvio Berlusconi bei den Parlamentswahlen im Januar alarmiert. „Es ist mir unerklärlich, warum ihn die Leute immer noch wählen, nachdem er gezeigt hat, wie korrupt er ist. Zunächst dachten viele, einer, der so reich geworden ist, kann doch mit Geld umgehen. Doch natürlich ist es eine völlig andere Sache, ob man als Unternehmer handelt oder als Staatsmann.“ Beppe Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung kann er allerdings ebenso wenig ertragen. Vor allem nicht Grillos öffentliche Auftritte. „Die Art, wie er herumbrüllt, erinnert mich an Mussolini.“

Natürlich enttäuscht ihn die Art, wie seine Landsleute ihre Stimmen abgegeben haben. Doch so recht mag er jene nicht verdammen, die ihre Überzeugungen aus der Dauerberieselung durchs Fernsehen beziehen, das ja wiederum weitgehend von Berlusconi kontrolliert wird. Und überhaupt möchte er jetzt dann doch lieber über Musik reden. Über seine „Perspectives Pollini“, mit denen er bei den Festtagen der Berliner Staatsoper zu Gast sein wird. Weil der Pianist davon überzeugt ist, dass zeitgenössische Musik nicht in Spezialistenfestivals abgeschoben werden darf, kombiniert er in seinen Programmen konsequent Neues mit Altem. Als Künstler, um den sich die Veranstalter reißen, kann er sich das erlauben. Wer Pollini mit Chopin will, muss auch Pollini mit Boulez buchen. Oder sich – im Fall der „Perspectives“ – Werken von Helmut Lachenmann und Salvatore Sciarrino aussetzen, bevor die späten Klaviersonaten Beethovens erklingen.

„Beethoven hat immer das Neue gewagt, sein ganzes Leben lang“, erklärt Pollini. „Das Voranschreiten war für ihn der Zweck aller Kunst. Kein anderer Komponist hat in seiner Schaffenszeit eine derartig grandiose Entwicklung durchgemacht wie er. Darum lässt sich Beethoven so gut mit moderner Musik kombinieren.“ Jetzt kommt der 71-Jährige richtig in Fahrt: „Ich finde, es ist auch für das Publikum, das sich vor allem für die Klassik und Romantik interessiert, immer stimulierend, neue Werke im Konzert zu erleben“, erklärt er. „Es ist doch ein ganz tolles Gefühl, so nahe am kreativen Prozess dran zu sein, ins Laboratorium der Komponisten zu schauen! Zu Beethovens Zeit übrigens wollten die Leute am liebsten nur Uraufführungen hören – und nicht so olle Stücke, die schon zehn Jahre alt waren!“

Pollini wird bei den Berliner Konzerten jeweils im zweiten Teil auftreten, für die Werke vor der Pause durften sich die Komponisten, die er ausgewählt hat, ihre Interpreten selber aussuchen. Lachenmann wählte das Jack Quartett, das mit seinem dritten Streichquartett „Grido“, zu Deutsch: der Schrei, schon sehr vertraut ist. Salvatore Sciarrino wiederum hat sich für „Carnaval“, ein komplexes Werk, das zwei Madrigale sowie ein Stück für Klavier, Bläser, zwei Celli und Schlagzeug verbindet, das Klangforum Wien gewünscht sowie die Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Den Klavierpart, der eigentlich Pollini gewidmet ist, wird sein 35-jähriger Sohn Daniele übernehmen. „Unterrichten wollte ich ihn nie“, erzählt der Pianist, „heute aber diskutiere ich oft und gerne mit ihm über die Werke, die er gerade vorbereitet.“

Warum es die moderne Musik in der Publikumsgunst immer noch so viel schwerer hat als die zeitgenössische Bildende Kunst? Für Pollini liegt die Antwort auf der Hand: „Die Musik zwingt dem Zuhörer die Dauer der Beschäftigung mit ihr auf. An einem Bild kann man vorbeigehen.“ Dennoch hat er den Eindruck, dass die Leute offener für Neues geworden sind. Lange muss er nachdenken, um sich zu erinnern, wann zuletzt mal jemand den Saal verließ, während er ein neues Stück aufführte: „Ich glaube, 1999 hat mal ein Zuhörer bei den Salzburger Festspielen protestiert, als ich Stockhausen gespielt habe.“

Es ist spät geworden, die Schuhe des Besuchers sind wieder trocken. Zeit zum Aufbruch. „Sie müssen den kleinen Druckknopf links unten betätigen, um herauszukommen“, ruft Maurizio Pollini noch von der Balustrade des Prachttreppenhauses herunter. Im Dämmerlicht findet sich der Knopf, die kleine Pforte im Tor springt auf. Draußen, im echten Leben, regnet es immer noch.

Die „Perspectives Pollini“ finden am 25. und 29. März im Rahmen der Festtage der Staatsoper in der Philharmonie statt.

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