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Kultur: Der Riese in der Badewanne

Effekte, Emotionen, Eiseskälte: Umberto Giordanos Oper „André Chénier“ bei den Bregenzer Festspielen

„Ein Schurke weniger kriecht nun in diesem Schlamm/Die Tugend applaudiert Dir, wunderbare Heldin.“ Mit flammenden Worten – und in wohlgesetzten Alexandriner-Versen – feiert der Dichter André Chénier 1793 die mutige Tat der Marie-Anne Charlotte Corday. Was kein Mann wagte, vollbrachte die Girondistin: jenen Tyrannen Jean Paul Marat zu erstechen, der im Namen der Revolution so viele Menschen aufs Schafott geschickt hatte. Cordays Weg führt danach natürlich ebenfalls direkt unter die Guillotine. Und auch auf den mitfühlenden Dichter Chénier saust das Fallbeil herab – am 25. Juli 1794, zwei Tage vor der Ermordung Robespierres und damit dem Ende der jakobinischen Schreckensherrschaft.

Lange vor Peter Weiss, der dem historischen Drama ein Drama widmete, hat der italienische Komponist Umberto Giordano aus dem haarsträubenden Stoff eine Oper gemacht. Uraufgeführt 1896 an der Mailänder Scala, ist sie heute das einzige seiner Musiktheaterwerke, das gelegentlich noch in den Spielplänen auftaucht. Ein echter Verismo-Schocker, schnell und grell, vier Akte in kaum zwei Stunden. Die filmschnitthafte Dramaturgie seines Librettisten Luigi Illica (der auch Puccinis „Tosca“ gemacht hat) inspirierte Giordano zu einer ungemein effektvollen Partitur, aus deren Emotionsfundus sich die Soundtrack-Macher Hollywoods bis heute bedienen.

Das ideale Stück also für die Seebühne der Bregenzer Festspiele – und doch ein enormes Risiko. Denn so sehr man für die Freiluftaufführungen am Bodensee auf Spektakelstücke angewiesen ist, so schwer ist es, mit einem Titel jenseits des Evergreen-Kernrepertoires die jährlich 200 000 Besucher anzulocken, die das Festival braucht, um seinen Eigenfinanzierungsgrad von 75 Prozent erreichen zu können. Abgefedert durch die in den letzten beiden Sommern stets ausverkaufte „Aida“ sowie durch die Ankündigung, 2013 und 2014 Mozarts „Zauberflöte“ zu spielen, hat es Intendant David Pountney gewagt – und gewonnen. Denn bei der Premiere am Mittwoch erweist sich „André Chénier“ als absolut wind- und wetterfestes Open-Air-Stück.

Und das im Wortsinn: Noch eine halbe Stunde vor Beginn sieht es nicht danach aus, dass die Vorstellung überhaupt über die Seebühne gehen kann. Seit dem Mittag nässt es unablässig vom bleigrauen Himmel. Als dann aber das Publikum in die Foyers drängt und die 1200 Ticketbesitzer der oberen Preiskategorien sich darauf einstellen, die Oper konzertant im Festspielhaus zu erleben (während die übrigen 5500 Besucher damit rechnen, gleich nach Hause geschickt zu werden), setzt der Niederschlag plötzlich aus. Hektisch werden Regenponchos, Windjacken und Wollmäntel übergestreift, Schals umgeschlungen, Decken ausgerollt – schließlich sind es draußen gerade mal 11 Grad, bei steifer Brise. Und der Mann im schwarzen Kapuzencape, der als Inkarnation des Todes durchs Stück geistern wird, kann pünktlich um 21.15 Uhr mit drei dumpfen Schlägen seiner Sense die Musik entfesseln.

Die ersten Takte klingen, als habe Umberto Giordano das Zurückschlagen des Vorhangs in Noten umsetzen wollen. Wie das Rauschen von schwerem Samt, der sich schwungvoll in Falten legt, wirken die Tonkaskaden der Streicher, die ganze anmaßende Attitüde der Kunstform Oper fokussiert sich in diesem prachtvollen Klangstrudel. Und wieder einmal verblüfft die Brillanz der Bregenzer Soundanlage: Hier auf dem See, wo keinerlei natürliche Akustik genutzt werden kann, wird am Mischpult ein Klang geschaffen, so kristallin und präsent, so üppig und farbenreich, wie man ihn sonst nur von der heimischen Stereoanlage kennt. Die Instrumente scheinen von überallher zu kommen. Dabei sitzen die Wiener Symphoniker doch 200 Meter hinter der Bühne im Warmen und Trockenen, im Saal des Festspielhauses. Unerklärlich auch, wie es die Tontechniker schaffen, die Stimmen der Sänger genau so wandern zu lassen, wie sich die Darsteller über die Spielfläche bewegen. Das Ergebnis jedenfalls ist dazu angetan, den bibbernden Zuhörern derart einzuheizen, dass sie diese Premiere unter Extrembedingungen unbedingt bis zum Schluss durchhalten wollen.

Ohne Scheu vor emotionalen Überwältigungsattacken entfesselt Ulf Schirmer die ganze Wucht des italienischen Verismo, blechgepanzert, wo es sein muss, rückhaltlos süßlich in den Liebesszenen, ein Dirigent, der immer szenisch mitdenkt, sich zum Diener der Handlung macht, zum Animateur und Erzähler. Mit so einem Maestro kann musikalische Kommunikation auch über weite Strecken funktionieren. Bei Schirmer fühlen sich die Solisten so sicher, dass ihnen genug Aufmerksamkeit bleibt für die Szene. Denn in Bregenz aufzutreten, gehört zum Anspruchsvollsten, dem sich Opernprofis stellen können. Mal abgesehen vom Singen bei Eiseskälte wie am Mittwoch: Hier verlangen schon die Bühnenbilder Bergsteigerqualitäten.

Auch diesmal versucht das Ausstattungsteam wieder, die vorangegangene Produktion noch zu toppen, was den Schauwert der Dekoration betrifft wie auch die versteckten technischen Raffinessen. David Fielding hat sich von Jacques-Louis Davids berühmtem Gemälde des toten Marat von 1793 inspirieren lassen, jenem Märtyrer-Porträt, das den leichenblassen Jakobiner leblos in der Badewanne zeigt. Um das Ölbild in eine dreidimensionale Skulptur verwandeln zu können, wurde zunächst eine Computersimulation erstellt, mit der sich alle szenischen Abläufe minutiös vorausplanen lassen. Die Einzelteile des Körpers wurden dann – wieder mithilfe von Computertechnik - aus Styropor gefräst, auf Holzplatten montiert und mit einem wetterfesten Make-up aus einer zementartigen Masse überzogen. Der Kopf des Revolutionärs – 14 Meter breit, 16 Meter hoch und 60 Tonnen schwer – entstand in einer Werft in Fussach am Bodensee, die zehn Meter hohen Schultern wurden direkt auf der Seebühne montiert. Fast 200 Treppenstufen führen von den Augen des Giganten, die sich öffnen und schließen lassen, bis hinunter zur Wasserkante. Hinzu kommt ein goldbronzen lackierter Spiegel, flankiert von drei Meter hohen Kerzen mit flackernden Seidentüchern als Flammen, sowie Marats gigantische Hand, die einen Brief hält, der locker 50 Personen Platz bietet.

Hier entwickelt sich der erste Akt, der am Vorabend der Revolution in einem hochherrschaftlichen Salon spielt. Über eine Brücke stolzieren die Adligen heran – von Kostümbildnerin Constance Hoffman mit Perücken wie Zuckerwattebergen ausstaffiert – um sich von RokokoSchäferspielchen unterhalten zu lassen. Dabei seilen sich Akrobaten vom Scheitel des Kopfes ab, während andere zur Krönung ihrer Tanzeinlagen graziös in den Bodensee springen. Regisseur Keith Warner hält es da mit Königin Marie Antoinettes Bonmot, ins Basisdemokratische gewendet: Wenn dem Pöbel das Brot der Opernhäuser zu trocken ist, von mir soll es Kuchen bekommen!

Dennoch ist der Abend mehr als Volksbelustigung. Weil Warner bewegende Bilder findet für diese blutige Zeit, weil er Gewalt und Willkür der Revolutionäre nicht verharmlost. Und weil es ihm immer wieder gelingt, vom Gewusel der Massenszenen zurück auf die drei Protagonisten zu fokussieren, auf André Chénier, dessen politische Poesie Hector Sandoval mit viel Gefühl auflädt, auf Norma Fantini als mädchenhafte Maddalena, jener vom Schicksal so hart angepackten Adligen, die am Ende mit ihrem geliebten Chénier aufs Schafott steigt, und auf Scott Hendricks, der als revoltierender Lakai verzweifelt kämpft, auch gegen sich selbst, um Gerechtigkeit durchzusetzen, wo Hass in den Herzen regiert.

Weitere Aufführungen bis 21. August.

Infos: www.bregenzerfestspiele.com

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