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Kultur: Der sächsische Orpheus

Ein großes Kind, das mit den Meeren spielt: zum Tod des Schriftstellers und Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig

Wen die Götter lieben, den rufen sie früh zu sich. Am Samstagabend ereilte ihr Ruf einen der größten Dichter deutscher Sprache. Wolfgang Hilbig erlag in Berlin seiner schweren Krebserkrankung. Am 31. August wäre er 66 Jahre alt geworden. Den brandenburgischen Erwin-Strittmatter-Preis hatte er Mitte Mai schon nicht mehr entgegennehmen können. Er wurde ihm für seinen Erzählband „Der Schlaf der Gerechten“ verliehen, der wie so oft bei Hilbig im sächsischen Braunkohlegebiet spielt: zwischen Abraumhalden, gefluteten Gruben, Straßen und Bäumen voller Asche und Kohlenstaub.

Denn wie Bertolt Brecht bekannte, aus den „schwarzen Wäldern“ zu stammen, so leitete auch Wolfgang Hilbig seine Herkunft aus dem Wald rund um Meuselwitz ab, einer Kleinstadt des „ewigen Nachmittags“ südlich von Leipzig. Es war nur einem Originalgenie im Schillerschen Sinne wie ihm gegeben, aus der drohenden Verwüstung, aus diesem Graben in der ewigen Dunkelheit des Erdreichs eine poetische Sprache und Weltsicht von ganz eigenem Zauber zu gewinnen. Hilbigs Utopie der sächsischen Wälder, seine Verhaftung mit der Natur verband ihn mit Peter Huchel, dem Metaphoriker des Waldes.

„Endlos schrieb ich Geschichten, die vor dem Schreiben lagen“, heißt es in Wolfgang Hilbigs erstem Roman „Die Übertragung“ von 1989, für den er den Bachmann-Preis erhielt. Er erschien wie alle seine Bücher seit „abwesenheit“ 1979 zunächst illegal im Westen, beim S. Fischer Verlag. Eine unmittelbar zuvor verhängte Haftstrafe wegen „Devisenvergehens“ machte Hilbig eher unfreiwillig zum DDR-Autor. In der „Übertragung“ taucht erstmals der Heizer C. auf, der der „Schwarzarbeit des Schreibens“ frönt. Alleinsein war dem Einzelgänger Hilbig die Grundvoraussetzung für Kreativität. Es habe in der DDR „nichts Verbietenswerteres als das Alleinsein-Wollen“ gegeben, symbolisiert durch das Schild „Betreten für Unbefugte verboten“ an der Tür des Heizraums. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Büchner-Preises im Oktober 2002 formulierte er programmatisch: „Tatsächlich, der Platz der Literatur ist der Monolog; es gibt da einen einsamen Schriftsteller, Poeten oder Dichter, der das Verbot des Alleinseins übertritt und seine Gedanken zu Papier bringt. Er mag dabei wohl an einen Leser denken, aber er kennt den Leser nicht.“ Stets ging es diesem an Symbolismus und Romantik geschulten Autor und seinen solipsistischen Helden „vom Rande“ um die schmerzhafte, doch heilsame Sublimierung der Existenz in Literatur. Alles muss dem höchst poetisch beschimpften Arbeiterkörper abgerungen werden, der „Kohletränen“ weint und schwitzt. So geht auch die Wahrnehmung des vereinzelten Kellerbewohners in der furiosen Erzählung „Die Weiber“ ganz in Düften und Gerüchen auf.

Wolfgang Hilbig wurde am 31. August 1941 in Meuselwitz geboren. Der Vater fiel in Stalingrad. Mutter und Sohn kamen in der engen Wohnung der Großeltern unter. Der Großvater, ein Bergarbeiter, war Analphabet. Hilbig machte eine Lehre als Bohrwerkdreher und arbeitete als Monteur, Heizer, Kesselwart. Seit seiner Schulzeit geriet dem „Nesthocker“ das Schreiben zur sorgsam verborgenen Leidenschaft. Mitte der sechziger Jahre, als der Bitterfelder Weg Konjunktur hatte, wurde er zu einem Zirkel schreibender Arbeiter delegiert, blieb aber bewusst Autodidakt. Lange noch war er in dem verpönten Beruf eines Heizers tätig. „Ein großes Kind, das mit den Meeren spielt“, nannte ihn sein Mentor Franz Fühmann.

Hilbig stellte als originärer „Arbeiterdichter“ eine Rarität in der westlichen Mediendemokratie dar, allerdings hasste er diese Etikettierung. Mit ungeschlachtem Zorn rechnete er mit dieser Gesellschaft ab, in die er 1985 durch ein Schriftstellervisum geriet. Sein Roman „Ich“ über die Innenansichten eines Stasi-Spitzels geriet 1993 zur literarischen Sensation. Früchte des Furors auf die leere Blendkraft des Westens hingegen waren seine Kamenzer Rede zur Verleihung des Lessing-Preises 1996 oder die Frankfurter Poetikvorlesungen „Abriss der Kritik“, in denen er mit Einkaufspassagen oder der „Autogesellschaft“ haderte.

Dieser kleine, kräftige Mann schrieb sich mit seinem blühenden Sächsisch ohne jeden äußeren Antrieb ins Traumbuch der Moderne ein. Ihm war jede Eitelkeit fremd, zur Selbstdarstellung war er im Gegensatz zu so vielen mediokren Kollegen völlig unbegabt. Auch das machte Hilbigs Rang, seine Besonderheit aus. Mit seinem lang erwarteten Roman „Das Provisorium“ legte Wolfgang Hilbig 2000 einen Nachttext vor. Der Protagonist C. läuft gleichsam mit einem Schwarzfilter vor den Augen durch die Welt. C. ist Industriearbeiter und Schriftsteller, ein unwilliger DDR- Bürger. Die scheinbare Freiheit wird ihm zum Fluch. Eine massive Schreibhemmung befällt ihn und treibt ihn in den Alkoholismus.

Wolfgang Hilbig neigte mehr zur artistischen Verkapselung und zur schwarzen Romantik als zur Aufklärung. Die DDR könne man nur noch „als erfundenes Gebiet begreifen“. Für politische Rationalisierungen war dieser Romancier zu sehr Lyriker, wandelte er zu sehr auf den Spuren Baudelaires, Poes oder Nikolaus Lenaus, in dessen Werk er sich als Kind „hineingefressen“ hatte. Die Lyrik bedeutete für den Nachtarbeiter, der tagelang in seiner Wohnung auf den ersten Satz wartete, stets die Nachfragen des Lektors fürchtend, „etwas Essenzielles“.

„Schonungslose Offenheit“, diese Floskel, auf Wolfgang Hilbigs Schaffen traf sie zu. Strindbergs Aussage „Um meine Werke schreiben zu können, habe ich meine Biografie, meine Person geopfert“ zitierte er als Motto für „Das Provisorium“. Um aus einem derartigen Steinbruch Literatur zu schlagen, bedurfte es eines Schriftstellers seines Ranges, eines Orpheus der Abraumhalden und der schwarzen Bahnhöfe. „Ich bin des Zufalls schiere Ungestalt“, sagte er über sich selbst in einem Gedicht. Hilbigs Drängen nach der Utopie, sein „Durst nach der Anwesenheit des Fasans auf dem Brikettberg in Meuselwitz“, von dem Franz Fühmann sprach, ist unvergänglich.

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