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Georgios Tsivanoglou, Hanna Juergens, Carmen-Maja Antoni.

© Marcus Lieberenz

"Der Selbstmörder" am Berliner Ensemble: Aus Liebe zur Leberwurst

Ein Mann sieht rot: Nikolai Erdmans „Der Selbstmörder“ am Berliner Ensemble vertraut dem Tempo und Wortwitz der literarischen Vorlage.

Die Zeichen stehen auf Schwank. Drei Treppen durchkreuzen den Bühnenraum, über den man, trippeltrappel, herrlich rennen kann. Kleine Türen stehen bereit, um schwungvoll auf- und zugeschlagen zu werden. Und da im schmalen Metallbett vor kahler Wand liegt er auch schon, der schmerbäuchige Kleinbürger Semjon Semjonowitsch. Im Feinripp-Unterhemd, das Brusthaar selbstbewusst zur Schau tragend, verlangt er mitten in der Nacht nach Leberwurst. Die Ehefrau flucht und keift und klagt und schreit – und schon sind wir mitten drin in Nikolai Erdmans schwarzer Komödie „Der Selbstmörder“ am Berliner Ensemble.

Erdman gehört schon lange zum Standardrepertoire deutscher Stadttheater. Dabei erlebte das 1928 entstandene Stück, das mit einem kleinen Ehestreit beginnt und sich zu einer gewaltigen Gesellschaftsfarce auswächst, seinen internationalen Durchbruch erst nach dem Tod des Autors 1970. Im gleichen Jahr wird es an der Schaubühne in Berlin erstaufgeführt.

Gut besetzte Nebenrollen

Zu Lebzeiten bringt Erdman sein Werk kein Glück. 1930 wird es von der sowjetischen Zensurbehörde verboten. Dass berühmte Kollegen und Theatergiganten wie Gorki, Stanislawski und Meyerhold sich für den jungen Autor einsetzen, ändert daran nichts. Schon begonnene Proben zur Uraufführung müssen abgebrochen werden. Nikolai Erdman wird kurze Zeit später verhaftet und verbannt.

Was war so brisant an dieser abstrus konstruierten Geschichte über einen Arbeitslosen im Moskau der 1920er Jahre, der von einer Tuba und einem Leben als Musiker träumt, um dann durch einige achtlos ausgesprochene Worte der Wut zu einem vermeintlichen Selbstmord-Kandidaten zu werden. An diesem Selbstmörder wider Willen zerrt nun plötzlich die ganze moderne Welt. Jeder will ihn für sich vereinnahmen, jeder braucht einen spektakulären Todesfall, der sich politisch ausschlachten lässt. Nach dem Motto: „Wenn Sie sich schon umbringen, dann geben Sie wenigstens jemandem die Schuld!“

Die Damen stehen dafür ebenso Schlange wie die russische Intelligenz, die orthodoxe Kirche, die Künstler, die Händler, die Opportunisten. Das BE hat das Stück bis in die Nebenrollen gut besetzt. Veit Schubert gibt den kultivierten Intellektuellen, der sich den neuen Machthabern geschickt andienen will, Annemarie Brüntjen die exaltierte Romantikerin, die ihren sexuellen Marktwert steigern will. Felix Tittel und Matthias Mosbach brillieren als Komikerduo in wechselnden Rollen.

Hier wird nichts übergarniert - deswegen funktioniert die Inszenierung

Man hätte es dabei belassen können. Hätte einen überdrehten, im Kern aber harmlosen Boulevardabend abliefern können. Aber in diese Falle tappt der junge französische Regisseur Jean Bellorini nicht. Mit der Bühne wandelt sich auch der Ton des Abends. Und Hauptdarsteller Georgios Tsivanoglou, der den Semjon durchaus als lebensfreudigen Genussmenschen anlegt, schafft immer wieder den Spagat zwischen alberner Situationskomik und existenziellem Ernst. Denn ausgerechnet im Angesicht des ungewollten Todes entdeckt der Selbstmörder etwas nie Gekanntes: seine persönliche Freiheit. Alle Angst fällt von dem einfältigen Leberwurstliebhaber ab und ein neues, reflektiertes Individuum tritt hervor: „Was ich will, das tue ich auch. Ich sterbe ja sowieso. Versteht ihr? Ich kann alles machen!“ Semjon wird damit auch den Mächtigen gefährlich. Weil er die Stimme erhebt und Widerspruch wagt. „Ich ruf jetzt im Kreml an“, schreit der Besoffene bei seinem Abschiedsbankett, das Bellorini als ausgelassenes musikalisches Abendmahl vor den Eisernen Vorhang verlegt.

Die Stärke der knapp zweieinhalbstündigen Inszenierung besteht aber nicht nur in solchen hintersinnigen Einfällen. Sondern vor allem darin, dass sie der literarischen Vorlage ganz vertraut. Dass sie nah am Tempo, am Wortwitz, aber auch an der politischen Kritik und philosophischen Sprengkraft des Stücks bleibt. Hier wird nichts übergarniert, hier erheben sich Regie und Darsteller nicht über die Figuren, hier werden Sprache und Plot nicht brachial ins 21. Jahrhundert gehievt. Nur einmal schert der Abend kurz aus. Als Carmen-Maja Antoni, die als Semjons Schwiegermutter endlich wieder in einer neuen Rolle am BE zu sehen ist, aus einem Brief von Bulgakow an Stalin vorliest: „Nach fast zehn Jahren bin ich mit meinen Kräften am Ende; außerstande, weiterhin zu existieren, abgehetzt, wissend, dass ich innerhalb der UdSSR weder gedruckt noch aufgeführt werde.“ Anders als Erdman wird Bulgakow das Ende des Stalinismus nicht mehr erleben.

Vorstellungen wieder am 19. und 23. Februar und am 1. März.

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