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Kultur: Der Stattneurotiker

Finita la commedia: Luc Bondys „Tartuffe“ im Akademietheater, mit Gert Voss und Edith Clever.

Am Schluss, wenn der Betrüger Tartuffe, der die Familie des Herrn Orgon schon um Hab und Mut, um Glück und Geld und den gesamten Hausstand gebracht zu haben schien, doch endlich enttarnt, verhaftet und von der Bühne geschafft ist, da hat der Dichter Molière die schiefe Welt noch einmal eingerenkt. Im Akademietheater der Wiener Burg versammelt Gert Voss als Orgon die Familie nun mitsamt der Dienerschaft wieder um den langen Esstisch, an dem die Geschichte vor zwei Stunden begann, und murmelt ein kurzes Gebet. Doch als alle schon sitzen und nach Kaffee und Kuchen langen, erhebt sich der große Schauspieler erneut. Jetzt, denkt man, verkündet er ein Gott-sei-Dank und dass der vergangene Schrecken der hoffnungsvollen Zukunft weiche. Aber Voss alias Orgon sagt stockend, fast tonlos nur: „Der Mensch ist wirklich ein – ganz gemeines Tier.“

Finita la commedia. Zwar tanzen die beiden Jüngsten, Orgons Tochter Marianne und ihr Verlobter Valère, noch ein paar Takte Tango auf dem Tisch, das freilich bleibt ein aufgesetzter Einfall, bevor das Licht verlischt. Was das Wiener Publikum danach überschwänglich gefeiert hat, war indes von Anfang an das Abbild einer erloschenen Welt. Luc Bondy, der Intendant der Wiener Festwochen und neuer Chef des Théâtre Odeon in Paris, hat seine „Tartuffe“-Inszenierung gleichsam im Schatten von Beckett angesiedelt.

An der Oberfläche funkelt und finkelt da noch ein Rest von schwarzer oder grauer Komödie, und es gibt ein paar sarkastische Lacher. Doch wer genauer hinschaut, erblickt im Haus des Herrn Orgon bloß eine Schwermuthöhle. Eine Familienhölle. Sie betritt Orgon im dunklen Anzug des heutigen Businessman, zurückgekehrt von nicht näher bezeichneten Geschäften: mit schwerem Schritt und noch schwererem Gemüt. Für seine Kinder aus früherer Ehe, für seine junge Frau Elmire, die Johanna Wokalek gleichfalls kühl und in sich gekehrt spielt, interessiert er sich nicht wirklich. Und seltsam unwirklich und rätselhaft wirkt auch die Beziehung zum Tartuffe.

Tartuffe hat sich als Scheinheiliger eingeschleimt in Orgons Vertrauen, spielt den Gottesfürchtigen und ist bekanntlich nur geil auf Orgons Frau und Vermögen. Gert Voss aber spielt nicht mehr den naiv Betroffenen oder den mal bigott, mal religiös Verzückten, der sich vor Tartuffe zum Narren macht. Allenfalls zitiert er noch den Hauch der Komödie mit einem koketten Augenaufschlag zum Himmel und erntet ein dankbares Publikumskichern. Tatsächlich scheint er von Beginn an in einer Melancholie am Rande der Depression befangen. Wenn er dem Verführer Tartuffe noch eigens den Umgang mit seiner Frau Elmire empfiehlt, ist das kein komisch verblendeter Mangel an Eifersucht, sondern es geschieht eher aus resignativer Projektion: Ein Gealterter sieht im jüngeren Nebenbuhler noch einmal den Schatten der eigenen Jugend.

Dafür gibt es Indizien. Luc Bondy hat die Zofe Dorine überraschend mit Edith Clever besetzt. Zuletzt triumphierte in dieser Rolle die viel jüngere Judith Rosmair beim Berliner Theatertreffen in Dimiter Gottscheffs „Tartuffe“ vom Hamburger Thalia-Theater. Da schien das ganze Stück aus der Perspektive der Dienerin erzählt (einer damals hochwitzigen Gastarbeiterin mit slawischem Zungenschlag). Auch in Wien ist Dorine eine heimliche Hauptfigur. Edith Clever wirkt im Abglanz der Theater-Stein-Zeit, mit geschwärztem Haar und maskenhaft glattem Gesicht, wie eine Mischung aus Landfrau und Diva, eine sanfte Exbombe, die den Hausherrn, als dieser gar seine Tochter dem Tartuffe zur Frau geben will, im alten Vertrauen zur Vernunft rufen will. Als sie sich hierfür an seine Seite setzt und kurz seine Hand streicht, stößt Orgon alias Voss die Clever-Dorine jäh zurück. Sie werde ihm jetzt „zu familiär“! Da merkt man, dass die beiden früher einmal mehr als nur das patronale Verhältnis verbunden haben mag. Auch zupft Orgon, als er Marianne (Adina Vetter) streng väterlich befiehlt, den Tartuffe zu ehelichen, für Momente an des Mädchens Bluse herum, als gäbe es selbst für ihn noch die Erinnerung an ganz andere Zeiten.

Das sind die kleinen Gesten, die winzigen Wunder. Das große Rätsel jedoch bleibt die Titelfigur.

Diese fabelhafte Figur Molières kann ja vieles sein. Gefallener Engel, Guru, religiöser Fundamentalist, ein Sex- und Seelenfänger. Ariane Mnouchkine hat ihn in den 1990er Jahren im Pariser Théâtre du Soleil einst zum Anführer einer schwarzbärtigen Schar von Mullahs gemacht. Das war die kühnste, geistesgegenwärtigste Vision, der völlige Bruch mit dem nur komödiantischen Frömmler und Heuchler. Damals ahnte man auch wieder, warum das 350 Jahre alte Stück Molière einen so erbitterten Kampf mit der kirchlichen Zensur bescherte.

Auch in Wien geistert Luc Bondys Version im Grenzbereich des Tragischen. Die Mechanismen der Komödie werden allenfalls zitiert. Richard Peduzzis Zentralraum, ein heller Salon mit Schachbrettboden, zieren Geweihe und Kreuze, fast so, als müsse man den Zusammenhang von Frömmelei und Ehebruch betonen. Und bevor Tartuffe erstmals hinter einem Vorhang erscheint, kämmt seine Hand einen blondlockigen Knaben und schiebt ihm eine Hostie in den Mund. Ja, mein Gott, die Missbrauchsdebatte hat eben auch ihren Bart. Der ist bei Joachim Meyerhoff kurz geschoren, sein hochaufgeschossener, in Röhrenhosen versteifter Tartuffe ist ein Klemmstenz, der nur bisweilen eine diebisch kalte Lust hinter den Brillengläsern vorglitzern lässt.

Am tollsten hatte einst Pasolini in seinem Film „Teorema“ einen jungen Mann in eine Bürgerfamilie eindringen lassen: als unerklärlicher Bezauberer, der seine Mitwelt allmählich in sexuelle und spirituelle Exzesse treibt. Meyerhoff aber ist kein Hexer, kein Zauberer, er ist statt des Erotikers nur ein spillriger Neurotiker. Eine Sphinx ohne Geheimnis. Und so fehlt Luc Bondys Inszenierung der Kern. Ein tieferer Grund oder Abgrund. Zudem hat Bondys und Peter Stephan Jungks Prosaübersetzung und Bearbeitung keine eigene Sprache, was bei Bondy überrascht, ist er doch selber ein wunderbarer Autor. Der Ton klingt unpoetisch, bildarm, witzlos und in den zeitgenössischen Anspielungen („Überlass die Dummheit den Extremisten“) eher zufällig.

Schon bei Molière kommt die Rettung am Ende aus dem Geist des guten (!) Überwachungsstaats. Nachdem Klaus Pohl als Gerichtsvollzieher noch mit liebenswürdigster Unerbittlichkeit das Haus Orgons für Monsieur Tartuffe hat pfänden wollen, erscheint Michael König als gewichtiger Bote des Königs, fast an Uli Hoeneß erinnernd. Gewisse Sünden des Herrn Orgon seien ihm angesichts seiner Verdienste vergeben – worauf er eine Kassette aus der Zimmerwand zieht, auf der man Tartuffes Intrigen bereits vorsorglich dokumentiert habe.

Als Tartuffe in Handschellen hinter einem Vorhang verschwindet, fährt Gert Voss als Orgon die Kontur des Entschwundenen an den Vorhangfalten nochmals nach. Als habe sich ein Traumgespinst, zwischen Schrecken und Sehnsucht, dahinter verflüchtigt. Ein Phantom, nichts sonst. Und der Mensch bleibt das traurige Tier.

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